Sally, wie war dein persönlicher Weg zum Glauben?
Ich bin in Israel, genauer in Jerusalem aufgewachsen und habe viel Zeit in der Kirche verbracht. Dort habe ich gesehen, welchen Einfluss unsere Kirche auf die Gesellschaft hat. Da habe ich mir gesagt: Ich möchte auch etwas verändern.
Wann wusstest du, dass du Pfarrerin werden möchtest?
Es war ein Prozess. Die Berufung war da, aber mir wurde das erst während meines Studiums bewusst.
Du hast dein Vikariat in Deutschland gemacht. Wäre es für dich nicht einfacher gewesen, in Deutschland Pfarrerin zu werden?
Es wäre bestimmt einfacher gewesen. Für mich war es aber wichtig, zurückzukommen: zu meiner Gemeinde, in mein Land, zu den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich wollte etwas zurückgeben und dort wirken, wo mein Herz schlägt. Deshalb war für mich klar, dass ich meine Kraft und mein Engagement genau hier einsetzen möchte.
2023 wurdest du als erste Pastorin der Kirche ordiniert. Wurde deine Rolle als Leiterin angenommen?
Als Pastorin wurde ich in meiner Gemeinde gut angenommen. Unsere Kirche setzt sich seit Jahren für Gleichberechtigung ein und hat viel dafür getan, dass Frauen in Leitungspositionen selbstverständlich werden.
Kannst du die Struktur der Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Region erklären?
Unsere Kirche hat sechs Gemeinden, die alle aus palästinensischen Mitgliedern bestehen. Ich bin in Jerusalem tätig, aber auch mit den Gemeinden in den palästinensischen Gebieten verbunden. Die lutherische Kirche hier hat sich historisch aus der Verbindung zur deutschen Kirche entwickelt. Heute gehören etwa 3.000 Menschen zur lutherischen Kirche in Jerusalem und den palästinensischen Gebieten. Die palästinensischen Gemeindemitglieder benötigen jedoch eine Genehmigung, um nach Jerusalem zu kommen. Meistens erhalten sie nur eine Tagesgenehmigung, die keine Übernachtung erlaubt. Sie dürfen auch nicht mit ihren eigenen Autos fahren, was den Besuch zusätzlich erschwert.
Trotz dieser Herausforderungen versuchen wir, die Verbindung zwischen den Gemeinden aufrechtzuerhalten. Die Kirche spielt dabei eine wichtige Rolle – nicht nur geistlich, sondern auch gesellschaftlich.
Du hast die politischen Umstände im Gebiet angesprochen. Wie früh bist du damit konfrontiert worden?
Als Kind habe ich vieles nicht bewusst mitbekommen, weil meine Eltern versucht haben, uns zu schützen. Ich habe zwar Soldaten vor der Schule gesehen, Checkpoints und die Mauer, aber ich wusste nicht genau, was das alles bedeutet. Erst in der Oberstufe haben wir im Geschichtsunterricht mehr darüber gesprochen. Unser Lehrer hat uns ermutigt, mit unseren Großeltern über ihre Geschichte zu reden. Das habe ich gemacht – beide Seiten meiner Familie sind 1948 aus Jaffa (heute Teil von Tel Aviv) geflüchtet. Sie haben mir erzählt, wie sie damals ihre Hausschlüssel mitgenommen haben, in der Hoffnung, eines Tages zurückkehren zu können.
Ich erinnere mich an einen Besuch mit meinen Großeltern, als ich etwa zehn Jahre alt war. Sie wollten uns ihre alten Häuser in Jaffa zeigen. Mein Opa hat damals die Orangenbäume wiedergefunden, die er mit seinem Vater gepflanzt hatte. Doch als wir vor dem Haus standen, hat die Frau, die dort heute lebt, meinen Großvater angeschrien und gesagt, wir sollen verschwinden, sonst rufe sie die Polizei. Diese Geschichte habe ich erst später richtig verstanden. Das war mein erster bewusster Kontakt mit der politischen Realität hier.
Wie ist der Zusammenhalt unter den Christen?
Es gibt ein starkes Bündnis zwischen den Kirchen, auch wenn gemeinsame Aktivitäten im Alltag eher selten sind. Vieles hängt von der jeweiligen Gemeinde und der aktuellen Lage ab. Besonders die Situation in Gaza hat in den letzten Jahren vieles überschattet. Sie beschäftigt uns alle sehr und hat dazu geführt, dass weniger gemeinsame Veranstaltungen stattfinden konnten.
Haben die Christen in der Region einen Einfluss auf die Gesellschaft?
Auch wenn wir als Christen eine Minderheit sind, haben wir einen spürbaren Einfluss. Besonders durch Bildungsarbeit sind wir in vielen Bereichen der Gesellschaft präsent und tragen zur Vielfalt bei.
Wie ist das Leben der Christen in den besetzten Gebieten?
Die Situation für Christinnen und Christen in den besetzten Gebieten bleibt schwierig. Viele unserer Gemeindemitglieder leben in unmittelbarer Nähe zu israelischen Siedlungen, die in den letzten Jahren weiter ausgebaut wurden. Das führt immer wieder zu Spannungen. Soldaten kommen regelmäßig in Städte wie Bethlehem oder Beit Jala und nehmen Menschen fest – oft ohne offizielle Begründung und lassen sie erst nach Monaten wieder frei. Auch Christen sind davon betroffen. In solchen Fällen versuchen wir als Kirche einzugreifen und deutlich zu machen, dass es sich um Gemeindemitglieder handelt. Trotzdem sind viele frustriert und verlassen das Land, weil sie unter diesen Bedingungen nicht weiterleben wollen. Wir als Kirche stehen vor der Herausforderung, unsere Gemeinden zu stärken. Unser Leid ist dabei nicht anders als das der anderen Palästinenserinnen und Palästinenser – wir werden nicht anders behandelt. Für die israelischen Behörden sind wir alle gleich.
In Deutschland werden die palästinensischen Christen nicht wahrgenommen. Würdest du dieser Aussage zustimmen?
Ja, viele Christen wissen gar nicht, dass es uns gibt. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass unsere Präsenz stört, weil sie das einfache Schwarz-Weiß-Denken infrage stellt. Auch viele Reisegruppen besuchen nur die bekannten Orte in Israel und nicht unsere Gemeinden in der Westbank.
Ich verstehe, dass die Geschichte Deutschlands eine besondere Beziehung zu Israel mit sich bringt. Aber das darf nicht bedeuten, dass man blind wird für das, was heute geschieht. Wenn ein Freund etwas falsch macht, heißt das nicht, dass man ihn nicht mehr liebt – aber man sollte trotzdem ehrlich sein. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen bereit sind, hinzuschauen, zuzuhören und auch unbequeme Wahrheiten anzuerkennen.
Du lebst als Palästinenserin in Jerusalem. Hast du dadurch ein anderes Leben als die Menschen in den besetzten Gebieten?
Als Christin in Jerusalem bin ich im Vergleich zu Palästinenserinnen und Palästinensern in den besetzten Gebieten in gewisser Weise privilegiert – aber das bedeutet nicht, dass ich volle Rechte habe. Ich habe keinen israelischen Pass und bin keine israelische Staatsbürgerin. Stattdessen besitze ich ein Dokument, das bestätigt, dass ich in Jerusalem wohne und mir erlaubt, von hier aus zu reisen.
Zusätzlich habe ich einen temporären jordanischen Pass, weil meine Mutter aus Jordanien stammt. Auch dieser Pass ist kein regulärer Pass, sondern wurde vielen Palästinensern ausgestellt, um ihnen zumindest eine Möglichkeit zur Ausreise zu geben. In beiden Dokumenten steht ausdrücklich, dass ich keine Bürgerin des jeweiligen Landes bin. Und das beschreibt ziemlich genau, wie es sich anfühlt: irgendwo dazwischen.
Du könntest aber einen israelischen Pass beantragen, oder?
Ja, ein israelischer Pass würde mir zwar mehr Bewegungsfreiheit und Rechte bringen, aber ich bin keine Israelin. Ich möchte nicht Teil eines Systems werden, das mich und viele andere seit Jahren unterdrückt. Außerdem würde ich mit einem israelischen Pass nicht mehr in viele arabische Länder reisen können – Länder, die mir wichtig sind, weil ich familiäre Verbindungen dorthin habe. Mit meinem temporären jordanischen Pass ist das noch möglich.
Wie ist die Lage für euch seit dem Angriff am 7. Oktober 2023?
Seitdem hat sich die Lage deutlich verschärft. Es gibt mehr Checkpoints, neue Straßensperrungen und Einschränkungen im Verkehr. Reisen ist dadurch deutlich schwieriger geworden. Fahrten, die normalerweise 20 Minuten dauern, nehmen jetzt acht bis zehn Stunden in Anspruch. Die Unsicherheit ist spürbar gewachsen. Viele Menschen haben Angst, was als Nächstes passiert, wenn der Krieg in Gaza weitergeht oder sich ausweitet.
Spaltet das Thema auch die Christen?
Nein, die Situation hat uns als Kirche eher darin bestärkt, zusammenzuhalten. Was in Gaza passiert, beschäftigt uns alle. Viele Gemeindemitglieder haben persönliche Verbindungen zu Familien dort.
Was würdest du Menschen in Deutschland gerne sagen, die über den Nahostkonflikt urteilen?
Ich würde zuerst fragen: Wie würdet ihr leben wollen, wenn ihr selbst in dieser Situation wärt? Wie würdet ihr euch wünschen, dass andere mit euch umgehen? Denn ich denke, niemand kann sich wirklich vorstellen, wie es ist, unter solchen Bedingungen zu leben. Trotzdem nehmen viele schnell eine Position ein, ohne die Realität vor Ort zu kennen.
Es geht mir nicht darum, Partei zu ergreifen, sondern Menschlichkeit zu zeigen. Die politische Lage und die Propaganda von beiden Seiten machen es schwer, klar zu sehen, was wirklich passiert. Aber eines ist sicher: Es sind Menschen, die dort leben – die leiden, die überleben wollen und die ein Recht auf Leben haben. Wir sollten uns nicht anmaßen, zu urteilen, wer leben darf und wer nicht. Stattdessen sollten wir Mitgefühl zeigen und uns fragen, wie wir selbst handeln würden, wenn wir betroffen wären.
Ist Kritik an der israelischen Regierung mit Antisemitismus gleichzusetzen?
Ich finde es wichtig, zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierung zu unterscheiden. Antisemitismus bedeutet aus meiner Sicht, Menschen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder Religion abzulehnen oder zu diskriminieren – und das ist absolut inakzeptabel. Kritik an politischen Entscheidungen ist etwas anderes. Wenn ich die israelische Regierung kritisiere, dann spreche ich über die Besatzung, über die Einschränkungen, die Menschen hier täglich erleben, und über Aussagen von Politikerinnen und Politikern, die Gewalt rechtfertigen oder pauschal gegen Palästinenserinnen und Palästinenser hetzen. Das hat nichts mit dem jüdischen Glauben zu tun – und viele jüdische Menschen, auch Rabbinerinnen und Rabbiner, sagen das selbst sehr deutlich.
Mir ist wichtig, dass es keine religiöse Diskriminierung gibt – weder gegenüber Christinnen und Christen noch gegenüber Jüdinnen und Juden oder Musliminnen und Muslimen. Ich wünsche mir Gleichbehandlung für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Glauben.