"Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt"

Wenn die Panikattacke hittet

In ihren Flitterwochen macht Melanie zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Panik. Doch fast schlimmer als die Angstattacken selbst wird das Misstrauen ihrem eigenen Körper gegenüber.

Panikattacken? Die haben doch vor allem hysterische Teenie-Mädels, die sich in etwas reinsteigern. Aber erwachsene, selbstbewusste Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen? Die sind von sowas nicht betroffen – dachte ich. Dann kamen unsere Flitterwochen.

Nach der Hochzeit und allem, was da auch emotional passiert, wenn man sich von der eigenen Familie abkoppelt und mit seinem Mann eine neue Family gründet, waren meine Emotionen sowieso schon außer Rand und Band. Und während wir in den Flitterwochen eine unglaublich schöne Zeit hatten, gab es einen Abend, an dem ich aus dem Nichts plötzlich das Gefühl hatte, ohnmächtig zu werden. Keine Luft mehr zu bekommen. So schnell wie möglich wieder ins Hotel zurückkehren zu müssen. Alles wurde eng. Mein Herz raste so schnell, dass ich mir sicher war, ich erleide gerade einen Herzinfarkt. Was war denn das? Ich war völlig überfordert mit mir, meinem Körper, und hatte große Angst. Woher kam das? Wie geht das wieder weg? Was, wenn das für immer bleibt? Habe ich den Prosecco im Hotel nicht vertragen? Ist das eine allergische Reaktion? Was, wenn ich jetzt ersticke?

Die darauffolgende Nacht war furchtbar. Mein Körper hatte immer wieder Adrenalin-Schübe, die mich nicht einschlafen ließen und ich war erfüllt von Angst. Was ich erst viel später erkannte: das war sie – meine erste Panikattacke.

Die Angst blieb

Dieses Gefühl kam in den Flitterwochen immer wieder. Aber gut, es war ja auch vieles neu. Das wird zuhause im Alltag bestimmt besser, dachte ich. Aber der Alltag kam und dieses komische Gefühl und vor allem die Angst vor dem Gefühl blieb.

Für uns als frisches Ehepaar war das ganz schön herausfordernd. Simon konnte oft nur schwer nachvollziehen und vor allem nachfühlen, was da in meinem Kopf und Körper abging. Da er meine sicherste Bezugsperson ist, kamen schlimme Panikattacken in seiner Gegenwart nie vor. Das machte es noch schwieriger, ihn in diese neuen Umstände miteinzubeziehen. Wir redeten viel darüber. War das gut? Oder kontraproduktiv? Bekam die Panik dadurch zu viel Raum in unserer Ehe? Unserem Leben? Meinem Kopf? Ich wusste es nicht.

Wir forschten nach den Ursachen: Was hatte sich seit der Hochzeit geändert? Gut, ich hatte angefangen, hormonell zu verhüten. Das setzte ich direkt ab. Meinem Körper tat das gut, aber die Panik blieb.

„Hilfe!“

Die nächste und bis dato schlimmste Panikattacke hatte ich einen Monat nach der Rückkehr aus den Flitterwochen im Auto. Ich war auf dem Weg zu meiner Coaching-Ausbildung, von München nach Nürnberg. Die Sonne schien, die Autobahn war nicht zu voll, die Straße trocken. Ich fuhr allein und freute mich aufs Wochenende. Aus dem Nichts spürte ich, wie Adrenalin durch meinen Magen raste, mein Herz überschlug sich, meine Hände wurden schwitzig und mein Sichtfeld schien immer kleiner zu werden. Ich befürchtete, dass ich das Lenkrad nicht mehr halten könnte und in die nächste Leitplanke rasen würde. Oder schlimmer noch: in ein anderes Auto! Ich fuhr panisch von der Autobahn ab, rief meine beste Freundin an, und kam schließlich völlig fertig und verschwitzt an. Aber ich hatte es geschafft. Bis heute, die schlimmste Autofahrt meines Lebens. So konnte es nicht weitergehen!

Also startete ich eine Zeit später die beschwerliche Suche nach einem Psychotherapieplatz. Ich wurde zu Kennenlerngesprächen eingeladen – direkt mit dem Hinweis, dass die Wartezeit auf einen Platz 6-12 Monate betrage. Durch eine Bekannte kam ich über Umwege dann im März innerhalb kürzester Zeit zu einem Platz bei einem Therapeuten.

Mit angezogener Handbremse

Und da befinde ich mich bis heute. Seit sieben Monaten in verhaltenstherapeutischer Behandlung. Ich wünschte, ich könnte schreiben, dass ich die Angst und die Panik easy überwunden habe. Im Freundeskreis wurde mir immer wieder zugesichert, dass eine Angststörung zu den am leichtesten und erfolgreichsten behandelbaren psychischen Störungen zählt. Was lieb gemeint war, führte dazu, dass ich mir zu Beginn richtig Druck machte, das mit der Panik so schnell es geht unter die Füße zu kriegen.

Dem ist nicht so. Es gibt viele gute Tage und Wochen, aber auch wieder Krisentage, die sich nach heftigem Versagen anfühlen. Noch fast schlimmer als die Panikattacken selbst finde ich diese Angst vor der Angst. Das lässt mich so viele Momente im Alltag mit angezogener Handbremse erleben. Mich meinen Körper unter ständiger Beobachtung haben, um nachzufühlen, ob da bald was kommt. Ist die Angst noch da? Was, wenn sie jetzt ausbricht?

In Zeiten, in denen ich abgelenkt bin, geht das meistens gut. Aber sobald ich zur Ruhe komme und Zeit habe, mich mit mir selbst zu beschäftigen, kann das, was alle Achtsamkeits-Gurus als den nicesten Shit erachten, schnell mein kleines Angst-Gefängnis werden.

Stark in der Schwäche

Alles in allem ist mithilfe der Therapie, Simons Unterstützung und a whole lot of Jesus wirklich schon eine extreme Besserung eingetreten. Mittlerweile versuche ich der Angst mit mehr Gelassenheit zu begegnen und mich runterzuregulieren, wenn die Nervosität hochcreept, indem ich mir sage: Wenn es mir in 10 Minuten immer noch so geht, dann mache ich mir nochmal mehr Gedanken. Es hilft mir außerdem, die Angst nicht panisch wegschieben zu wollen, sondern mehr wie einen Teil von mir zu sehen und zu wissen, dass selbst, wenn ich in dem Moment eine Panikattacke bekomme, das gar nicht so schlimm ist und mir nichts passieren wird. Das nimmt dem Ganzen die Macht und die „Gefährlichkeit“.

Auch, wenn die Panikattacken mich oft unwohl fühlen lassen, habe ich der Angst eine Sache nie erlaubt: mich von dem abzuhalten, was ich gerne tun möchte: das Haus verlassen, ins Auto steigen, in Restaurants oder auf die Bühne gehen, auch wenn ich kurz vorher in meinem Stuhl sitze und denke, ich erleide mit dem ersten Schritt direkt einen Herzinfarkt. Denn sobald die Angst Raum bekommt, vergrößert sie sich stetig und lauert auf einmal hinter allem, was vorher noch ganz normal machbar schien. Und das möchte ich niemals zulassen.

Panik und Psychotherapie fühlen sich für mich noch viel zu oft nach (Charakter-)Schwäche an. Nach etwas, dass man besser nicht mit anderen teilen sollte, weil man so jeden Respekt, jedes Ansehen, jedes Vertrauen in die Fähigkeiten und Stärke einer Person verliert. So roh und unfassbar verletzlich. Aber genau darin liegt auch irgendwie die Schönheit. Ich strecke meine Hand aus und sage: da, schau mal. Das ist mein verletzlichster Kern. Ich bin Mensch. Und du bist es auch. Lass uns gemeinsam unsere Stärke in unserer Verletzlichkeit feiern. Uns in Herausforderungen gegenseitig stützen. Und dem leisen Flüstern des Heiligen Geistes glauben, der liebevoll verspricht, dass er in unseren Schwächen stark ist.

Melli Klepper hat ihrer Panik, auf Therapeuten-Empfehlung hin, einen Namen gegeben. Sie heißt: alte Berta. Sonst liebt und feiert sie das Leben mit ihrem Mann in München, schreibt und podcastet gerne bei houlimouli.de, leitet den Bereich „Junge Erwachsene“ bei WDL und arbeitet als Life- & Business Coach.

Melli Klepper

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Real Life Guys beten vor dem Krankenhaus

Leben und Sterben auf Film

Alexander Zehrer (links) und Lukas Augustin (rechts). Foto: Siloam Productions Wie kam es dazu, dass ihr diese Doku drehen wolltet? Lukas Augustin: Durch meine eigene Biografie habe ich verschiedene Leute kennengelernt, die durch eine schwere Zeit gegangen sind. Die Frage wie Menschen mit Leid umgehen, hat mich schon länger beschäftigt. Irgendwann hatten wir dann Kontakt mit einer Produktionsfirma aus der Schweiz, die gesagt hat, sie würden gerne mit uns einen Film machen. Wir haben über dieses Thema gesprochen und wie wichtig es ist, eben nicht rückblickend so eine Geschichte zu erzählen, wie jemand mit einer krassen Erfahrung umgeht, sondern dabei zu sein und Menschen in dieser Situation zu begleiten. Alexander Zehrer: Damals hatten wir nur die Idee, wir hatten keinen Protagonisten im Kopf, der dafür passen würde. Ich hatte zwei Wochen vorher durch Zufall diese Talkshow im NDR gesehen, wo Philipp das erste Mal öffentlich von seiner Krebserkrankung gesprochen hat. Dann habe ich gegoogelt, wer dieser Typ ist und bin so auf die Real Life Guys und Life Lion gestoßen. Ich habe mir das angeguckt und dachte, wow, was für ein Typ! Ich war total gefangen von deren Story, auch von der ganzen Vorgeschichte mit seiner Schwester Elli. Wir haben den Kontakt hergestellt und Philipp hat zugesagt, dass er mit uns die Doku anfangen würde. Anfang Februar 2021 sind wir also nach Bickenbach gefahren. Ich weiß noch, wir sind mit unseren Kamera-Taschen angekommen, mit null Ahnung, was uns erwartet, nur mit dieser Dankbarkeit, dass wir Philipp begleiten dürfen. Wir wussten nicht mal, wie lang das Projekt laufen würde. Ist das eine Doku, die wir anfangen und dann geht das ein Jahr oder vielleicht mehrere? Wir sind hergefahren mit dem Gefühl, jeder Dreh könnte auch der letzte sein und so haben wir auch immer gedreht. Weil wir nie wussten, wie lange geht das noch. Philipp war in einem körperlichen Zustand, wo man überhaupt nicht gemerkt hat, wie schlecht es um ihn stand. Wenn ich die Beule auf seiner Brust nicht gesehen hätte oder die Wunde später, dann hätte ich in den ersten Monaten, überhaupt nicht gecheckt, dass er Krebs im Endstadium hat. Ansonsten war für uns die Hauptherausforderung, auch generell bei Dokumentarfilmen, Nähe zu den Protagonisten zu gewinnen. Und wie hat sich die Nähe dann entwickelt? Lukas: Am Anfang war auf jeden Fall Zurückhaltung da, weil wir halt Stranger aus Berlin waren. Alex: Aber wir kamen ja nicht hierher, haben uns im Hotel einquartiert und sind wieder heimgefahren. Vom ersten Tag an haben wir bei euch auf der Couch geschlafen oder bei Phillips Eltern im alten Kinderzimmer. Es war kein Geld da für eine eigene Wohnung, also waren wir plötzlich einfach Teil eures Lebens. Man hat gemerkt, je mehr wir da waren, desto mehr hat sich eine Freundschaft entwickelt. Gab es einen Moment, in dem ihr gedacht habt „Jetzt sind wir Teil des Freundeskreises“? Lukas: Ich glaube, der Wendepunkt war die Reise in die Dominikanische Republik. Philipp wollte ja nochmal eine Reise machen. Er hat mir spontan eine Woche vorher eine WhatsApp geschickt und gesagt: „Hey, ich überlege, mit ein paar Freunden jetzt in die Karibik zu fliegen.“ Wir waren oft abends noch bei ihm auf dem Zimmer und eigentlich 24/7 mit euch unterwegs. Und mit der Zeit haben wir gemerkt, wir sind nicht länger Beobachter, sondern wir sind Freunde geworden und wünschen uns genauso sehr, dass Philipp wieder gesund wird. Diese journalistische Distanz, die ich normalerweise bei meinen Projekten hab, habe ich in dieser Zeit total verloren. Und auch Philipp hatte diese Freiheit, dass er nicht das Gefühl hatte, er muss jetzt irgendwas verstecken vor uns. Davon profitiert so ein Dokumentarfilm natürlich extrem, weil man das Gefühl hat, man taucht wirklich ein in diese Welt, in eure Welt. Dafür bin ich total dankbar. Lukas und Philipp sprechen über Leben und Sterben. Foto: Siloam Productions Alex verbindet Philipps Wunde. Foto: Siloam Productions Auf welche Momente in der Doku freut ihr euch besonders, sie den Leuten zu zeigen? Lukas: Es gab ständig solche Momente: die Abende am Strand, wo wir zusammen gesungen und gebetet haben, wo man einfach gespürt hat, ihr streckt euch nach Gott aus und versucht Antworten auf eure Fragen zu bekommen. Es ist nicht einfach alles geklärt, nur weil ihr diesen Glauben habt. Es ist eigentlich die ganze Zeit ein Struggle, wie man jetzt noch daran festhalten kann. Ob es noch Hoffnung gibt und was ist, wenn Philipp stirbt. Diese Suche nach Lösungen in einer eigentlich hoffnungslosen Situation und auch diese Zuversicht, dann trotzdem nicht komplett den Verstand zu verlieren, sondern so klar und ruhig zu bleiben, war sehr beeindruckend. Ich stelle es mir schwierig vor: du lernst jemanden kennen, gewinnst ihn mehr und mehr als Freund und siehst gleichzeitig, wie seine Gesundheit Tag für Tag schwindet. Aber du musst weiterhin die Kamera draufhalten, um die Geschichte zu Ende zu erzählen. Dachtet ihr manchmal, eigentlich wäre es jetzt nicht angemessen zu drehen, aber wir müssen die Doku zu Ende drehen? Lukas: Das war auf jeden Fall die ganze Zeit eine Gratwanderung für uns. Weil es uns wichtig war, dass wir Philipp nicht in seinem Leid vorführen. Und gleichzeitig wussten wir, das gehört eben zu seiner Geschichte dazu und das ist auch sein expliziter Wunsch gewesen. Er hat immer wieder gesagt, dass wir sein Real Life festhalten und nichts beschönigen sollen. Wir waren auch oft einfach nur da in diesen Momenten und haben nicht gedreht. Aber es gibt natürlich viele Momente, wo wir uns trotzdem entscheiden mussten, die Kamera laufen zu lassen, denn sonst hätte uns ein wichtiger Teil von der Geschichte gefehlt, um ein authentisches Bild zu zeigen. Es ist uns in diesen Situationen auf jeden Fall nie leichtgefallen, einfach weiterzudrehen. In machen Situation wollte man ihn einfach nur umarmen oder bei ihm sein und das haben wir auch oft gemacht. Auf der anderen Seite hatten wir die Rolle als Filmemacher. Uns war von Anfang an klar, dass es herausfordernd wird und dass es Momente geben wird, wo es auch für uns schmerzhaft ist dabei zu sein. Alex: Es war ja so, dass auch immer wieder Kamerateams für andere Sender vorbeikamen. Die waren dann ein, zwei Tage da, haben ihre Sachen gefilmt und sind wieder gegangen. Wir dagegen waren da, wenn ihr aufgewacht seid und wenn ihr nachts um vier schlafen gegangen seid, die Kameras waren ständig präsent und irgendwann haben wir gemerkt, dass das auch total egal ist, ob wir da sind oder nicht. Ihr habt einfach euer Ding durchgezogen und wir waren da, ob die Kamera jetzt an war oder nicht, das war total egal. Ihr habt das gar nicht mehr beachtet und so war es dann auch in den schweren Momenten. Als Philipp in seinem Zimmer lag und schlecht Luft bekommen hat und Schmerzen hatte. Klar war es dann auch komisch, das zu drehen, aber es war trotzdem natürlich. Es war schwer, aber irgendwie habt ihr uns das auch total leicht gemacht. Gab es Momente, die ihr gerne auf Band gehabt hättet und die euch jetzt fehlen? Lukas: Eine Herausforderung war, dass wir in Berlin wohnen und ihr wohnt in Bickenbach, das sind immer sechs Stunden Zugfahrt. Wir haben beide Familien und kleine Kinder – das heißt, wir konnten jetzt nicht bei euch einziehen. Wir hatten auch ein Leben neben der Doku. Also natürlich gab es Momente, wo wir gerne dabei gewesen wären. Zum Beispiel nach der Reise in die Dominikanische Republik – da habt ihr euch als Freundeskreis hingesetzt und Tacheles geredet. Ihr habt angefangen, Pläne zu machen und Leute einzuweisen, was zu tun ist, wenn es Philipp schlecht geht. Also wie funktioniert das mit Morphium spritzen und so weiter. Das war ein Moment, wo wir gern dabei gewesen wären und gefilmt hätten, wie der Freundeskreis mit dieser Situation umgeht und man solche Sachen bespricht. Es war aber für uns beide nicht möglich, da zu sein. Alex: Oder als Philipp gestorben ist. Da war ich gerade in einem anderen Projekt unterwegs als Janet uns schrieb, dass Philipp angefangen hat zu bluten. Ich habe dann sofort Lukas angerufen und gefragt, ob er losfahren kann. Lukas ist hingefahren und hat dann die letzten zwei Tage in Bickenbach verbracht mit euch allen. Ich war woanders und hab mich dort total fehl am Platz gefühlt. Abends habe ich am Telefon erfahren, dass Philipp gestorben ist – ich weiß noch, dass ich zu meiner Frau gegangen bin, angefangen habe zu weinen und meinte, dass ich jetzt los muss. Also habe ich mich ins Auto gesetzt und bin die Nacht durchgefahren. Lukas ist um fünf Uhr morgens nach Hause gefahren, ich kam zur selben Zeit bei euch an und wir haben uns die Klinke in die Hand gedrückt. Ich habe dann die nächsten Tage da verbracht und dort weitergedreht, wo Lukas aufgehört hat. Lukas: Und trotzdem finde ich es einfach krass, wie oft wir in entscheidenden, wichtigen Situationen da waren, bis hin zu seinem letzten Atemzug. Was war eure größte Herausforderung in der Postproduktion? Alex: Die große Storyline stand ja, wir mussten dann schauen, was wir von diesen über 200 Stunden gedrehtem Material nehmen. Welchen Raum gibt man welchem Thema? Es gab Szenen, wo wir damals beim Drehen dachten, das wäre ein ganz toller Moment, aber dann beim Schneiden gemerkt haben, dass es nicht funktioniert wie gedacht. Und andere Situationen, wo wir dachten, wir drehen einfach mal, sind total authentische Aufnahmen geworden. Diese Nuggets rauszuarbeiten war letztlich die größte Herausforderung. Das Crowdfunding für die Doku hat insgesamt 550.000€ eingebracht. Habt ihr damit gerechnet, dass es so erfolgreich sein würde? Alex: Auf keinen Fall. Das Crowdfunding ist absolut durch die Decke gegangen und das hat ermöglicht diesen Film auf einer professionellen Ebene produzieren lassen zu können. Es waren nicht nur wir beide mit am Start, sondern da war ein ganzes Team involviert, von Editor, Assistenten, Sound Designern, Farbkorrektur, Marketing, Produktion. Das Besondere ist, dass es keine große Filmförderung gab, die da eine halbe Million reingebuttert hat, sondern dass es fast 7.000 Leute sind, die dafür gespendet haben. Lukas: Wir sind einfach total dankbar, jetzt alle Register ziehen zu können, damit möglichst viele Menschen diese Story von Philipp sehen. Gibt es Sachen aus der Zeit, die ihr für euch mitgenommen habt? Alex: Euer Motto „do something“, also einfach unterwegs zu sein, was zu machen, hat mich total inspiriert. Es inspiriert auch sicher viele andere, zu sehen: Da sind junge Menschen, die einfach ihren Traum leben, aber dann auch maximal herausgefordert sind durch diese Krankheit. Der Krebs hat ja nicht nur Philipp beeinträchtigt, sondern euch alle geprägt. Und trotzdem habt ihr das als Freunde zusammen durchgestanden. Wir alle kennen oberflächlichen happy clappy Freundschaft, aber bei euch spürt man diese Tiefe. Zu sehen, wie ihr durch dick und dünn gegangen seid und auch noch geht, ist sehr ermutigend. Das hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, Freundschaften zu pflegen und in Beziehungen zu investieren. Außerdem den Mut zu hinterfragen, was es mit diesem christliche Glaube auf sich hat – ist es das was, woran du nur denkst, wenn es dir schlecht geht, oder ist der Glaube ein Lifestyle, wo du Jesus in deinen Alltag mit aufnimmst, egal ob es dir gut oder schlecht geht.

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Mein Garten - dein Garten

Wie du gesunde Grenzen setzt

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich vor einigen Jahren an meinem absoluten Tiefpunkt angekommen war. Die einfachsten Dinge überforderten mich, ich kämpfte täglich mit Panikattacken und musste viele Situationen, die zuvor zur Normalität gehört hatten, meiden. Letztendlich konnte ich weder arbeiten noch mein Studium beenden. Mittlerweile weiß ich, dass es viele kleine Bausteine waren, die den Turm zum Einsturz gebracht hatten. Und einer der Wichtigsten davon, hatte mit meinen Grenzen zu tun. Ich wollte es immer allen Menschen rechtmachen und dabei übernahm ich mich regelmäßig selbst. Ich wollte bloß niemanden enttäuschen und fühlte mich sehr schnell für alles und jeden verantwortlich, vor allem für diejenigen, die mir am wichtigsten waren. Das Konzept von Grenzen war mir damals nicht bekannt. Heute ist es einer der wichtigsten Bausteine, auf denen ich Beziehungen aufbaue. Was sind gesunde Grenzen? Gesunde Grenzen verlaufen für mich dort, wo ich anfange und die andere Person endet. Klingt kompliziert? Lass es mich erklären: Stell dir vor, du hast ein Haus und einen Garten. Nebenan wohnt dein Nachbar. Er hat ebenfalls ein Haus mit Garten. Für alles was auf deinem Grund und Boden geschieht bist du verantwortlich. Für alles was auf dem Nachbargrundstück geschieht, dein Nachbar. Um die Verantwortungsbereiche klarer abzugrenzen, stellst du einen Zaun auf. Der Zaun ist außerdem ein Schutz vor Gefahren und Eindringlingen von außen. Du, dein Haus und dein Garten stehen sinnbildlich für deine Gefühle, deine Gedanken und deine Entscheidungen. Dein Nachbar, sein Haus und sein Garten wiederum für die seinen. Der Zaun versinnbildlicht die Grenzen, die du setzt. Denn du allein bist für deine Gefühle, deine Gedanken und deine Entscheidungen verantwortlich. Und um das für dich und deinen Nachbarn klar zu machen, ist es wichtig Grenzen zu ziehen. Wofür sind Grenzen da? Gesunde Grenzen beschützen die Beziehung zu dir selbst. Wenn du Grenzen und Limits hast, weißt du ganz genau, wo du beginnst und wo du aufhörst. Du vertraust dir selbst und kannst mit Überzeugung kommunizieren, was du dir gefallen lässt und was nicht. Grenzen bauen Selbstvertrauen und definieren, wofür du wirklich verantwortlich bist und wofür nicht. Gesunde Grenzen beschützen gleichzeitig auch deine Beziehungen mit anderen. Wenn du weißt, wer für was verantwortlich ist, kannst du dich entspannen. Du musst nicht versuchen Gott im Leben anderer zu spielen, indem du zu viel machst und auch nicht anderen zu viel Platz in deinem Leben einräumen, indem du überall Verantwortung übernimmst. Grenzen sind gut für dich und für andere. Woher weißt du, dass du Grenzen brauchst? Hier sind vier Anzeichen, dass du womöglich an deinen Grenzen arbeiten solltest: Du vernachlässigst dich selbst. „Setzen Sie zuerst Ihre eigene Sauerstoffmaske auf und helfen Sie dann anderen.“, diese Aussage kennt jeder aus dem Flugzeug. Es klingt einfach, aber das ist es oft nicht. Sich um sich selbst zu kümmern ist mehr, als ein bisschen Wellness und ist alles andere als selbstsüchtig. Dazu gehört zum Beispiel Nein zu sagen und sich seiner eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein. Und genau wie bei dem Beispiel mit der Sauerstoffmaske wirst du mehr Energie dafür haben anderen zu helfen, wenn du dich erst um dich selbst sorgst. Du fühlst dich überfordert. Überforderte Menschen haben mehr zu tun, als sie Zeit haben. Heutzutage ist diese Art der Geschäftigkeit normal und das Wohlbefinden vieler Menschen der Preis dafür. Gesunde Grenzen zu verstehen ist ein proaktiver Weg, um herauszufinden, was wirklich machbar ist. Du hegst einen inneren Groll gegen andere. Wenn wir keine Grenzen setzen, mündet das oft darin, dass wir uns ausgenutzt, frustriert, verärgert, genervt oder verbittert fühlen. Das verändert die Art und Weise wie wir mit anderen umgehen und erlaubt uns nicht, uns in Beziehungen von der besten Seite zu zeigen. Wenn wir einen inneren Groll hegen, tun wir Dinge für andere aus Pflichtgefühl und nicht aus der Freude am Helfen. Du meidest andere Menschen. Anderen aus dem Weg zu gehen oder sie zu ignorieren sind Vermeidungstaktiken. Wenn du versuchst ein Problem zu umschiffen, verhindert das den Konflikt häufig nicht, sondern schiebt die Notwendigkeit gute Grenzen zu setzen nur auf. Fühlst du dich angesprochen? Ich bin davon überzeugt, dass jeder von uns bewusst Grenzen setzen und diese auch klar kommunizieren sollte. Gesunde Grenzen sehen für jeden anders aus. Dabei kommt es auf Persönlichkeit, Familienumstände, Zeit und vieles mehr an. Grenzen können außerdem in ganz verschiedenen Bereichen gezogen werden. Nedra Glover Tawwab schreibt in ihrem Buch „Set boundaries, find peace“ über die Bereiche Familie, romantische Beziehungen, Freundschaften, am Arbeitsplatz und über Social Media, dass Grenzen in jedem Bereich anders aussehen, aber überall wichtig sind. Vielleicht geht es dir jetzt wie mir vor einiger Zeit und du weißt gar nicht wo du anfangen sollst mit dem Grenzen ziehen. Oder du warst eigentlich der Überzeugung, dass du schon ganz gut dabei bist, aber die oben genannten Anzeichen haben trotzdem auf dich zugetroffen. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist: Wie lassen sich gesunde Grenzen identifizieren? Grenzen identifizieren Dafür kannst du dir Zeit nehmen, es dir in einer ruhigen Ecke bequem machen und die unten genannten Fragen beantworten. Höre dabei auf deine Gefühle und deine Gedanken. Setze dir Prioritäten und beziehe auch andere Personen ein, die dir wichtig sind und dich gut kennen. Denke daran, dass du beim Kommunizieren der Grenzen klar und bestimmt und trotzdem freundlich sein kannst. Behalte im Hinterkopf, dass es zu deinem Besten ist und auch deine Beziehungen zu anderen auf ein neues Level hebt. Kümmere dich um deinen Garten. Du bist dafür verantwortlich. Wenn du gut damit umgehst, wird darin viel Schönes wachsen und die Pflanzen können Früchte tragen. Ist das nicht auch ein göttliches Prinzip? Wie sieht eine gesunde Beziehung in deinen Augen aus? Wenn du dir deine Antwort zur ersten Frage anschaust: Was sind deine wichtigsten Bedürfnisse in einer Beziehung? Gibt es eine Beziehung / Freundschaft, die toxisch oder schwierig (geworden) ist oder in der deine Bedürfnisse nicht respektiert werden? (Schau dir gern noch einmal die vier Anzeichen weiter oben im Text an.) Was für eine Grenze wäre in diesem Fall hilfreich? Schreibe die Grenze auf und überlege, wie du sie am besten kommunizieren kannst. Kommuniziere die Grenze und stehe zu deiner Entscheidung.

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Tristan Horx

Optimistisch in die Zukunft

Aktuell sieht man die Klamotten der 90er Jahre wieder auf den Straßen. Haben Sie als Zukunftsforscher diesen Trend vorhergesehen? In bin zwar kein Modeexperte, aber mit den 90ern ist es ein ewiger Kreislauf. Ich glaube, es ist jetzt schon das fünfte Mal, dass die wieder „in“ sind. Grundsätzlich ist es aber ganz normal, dass Modeerscheinungen immer wiederkommen. So gesehen, habe ich das vorausgesagt. Haben die Älteren dann recht, wenn sie sagen, dass es keine neuen Trends mehr gibt und stattdessen das Alte nur revivalt wird? So nach dem Motto, Omas Haferschleim heißt jetzt einfach Overnight Oats? Es ist eine Illusion zu glauben, dass in der Zukunft immer alles neu und anders sein muss. Viele Sachen existieren noch, weil sie einen Wert hatten. Meistens werden sie in Richtung Zukunft leicht abgewandelt. Ich garantiere, dass das, was die Großeltern als Haferschleim kennen, anders schmeckt als das, was man heutzutage als Porridge verkauft bekommt. Zukunft entsteht immer aus der Rekombination von Altem und Neuem. Ganz oft wollen wir aber nicht wahrhaben, dass das Alte auch etwas damit zu tun hat. Das ist eine falsche Erwartungshaltung der Zukunft gegenüber. Dann betrachten Sie als Zukunftsforscher also auch die Vergangenheit? Ja, maßgeblich sogar. Anders als bei Trends, die ich analysiere und die man als Gegenwartsphänomene problemlos belegen kann, wird die Zukunft anhand von Mustern bestimmt. Dabei hilft die Vergangenheit enorm, denn irgendwo her muss ich die Muster ja bekommen. Als Zukunftsforscher muss man sich mit der Vergangenheit ein bisschen auskennen, mit der Gegenwart sowieso und mit der Zukunft eigentlich am wenigsten. Das ist das Spannende. Je nachdem mit wem man spricht, könnte man aktuell das Gefühl bekommen der Weltuntergang ist nah. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft? Medial steht der Weltuntergang schon seit ich klein bin vor der Tür. Damals war die Angst, dass das Erdöl knapp wird, dann wurde gesagt, dass der nächste Weltkrieg ausbricht. Dann gab es die Sorge, dass wir alle vereinsamen, weil es so viele Single-Haushalte gab. Wir haben irgendwie schon alles durchgemacht. Wenn man jung ist, wirkt es wahrscheinlich echt so, als würde jeden Tag die Welt untergehen. Vor dem Krieg in der Ukraine ist die Welt wegen einer Pandemie untergegangen. Da sind wir dann wieder beim Thema Vergangenheit – vielleicht muss man sich aber vergegenwärtigen, dass 99 Prozent der Menschheitsgeschichte richtig beschissen waren. Gerade wir im Westen leben nach wie vor zum besten Zeitpunkt jemals. Und auch wenn sich das jetzt wie eine Trendwende anfühlt, in der Realität ist das nicht so. Wir sind alle zurecht sehr betroffen von diesem Krieg, aber man darf nicht vergessen, dass es an anderen Orten auf diesem Planeten seit eh und je so ist. Vielleicht bekommen wir gerade einfach eine Realitätsklatsche. Wir im Westen haben die Tendenz die Gegenwart aufzublähen, weil uns die Zukunft als gemeinsame Vision fehlt. Welche Entwicklungen könnte die aktuelle Weltlage denn in Zukunft lostreten? Reregionalisierung als Gegentrend zur Globalisierung wird ein Thema werden. Damit meine ich keine Nationalismen, dafür sind die jüngeren Generationen zu informiert aufgewachsene. Auf die Nation greift man nämlich nur dann zurück, wenn einem alle anderen Identitätsmöglichkeiten ausgehen, quasi als kleinsten gemeinsamen Nenner. Deshalb glaube ich nicht, dass der Nationalismus wiederkommt, aber gerade mit Blick auf die Wirtschaft, wird das Regionale an Bedeutung zurückgewinnen. Dann haben wir das ganze Thema Nachhaltigkeit. Aktuell merken wir, dass wir hier wenig Erdöl und Gas haben. Wir haben aber Sonne und Wind. Dieser Trend hat gerade einen deutlichen Boost bekommen. Und ein weiterer Punkt, der aktuell ein bisschen in den Hintergrund geraten ist, ist die neue Arbeitswelt. Man darf nicht vergessen, was sich da Unglaubliches getan hat. Aktuell wirkt die Frage nach Homeoffice ein bisschen kleinteilig, wenn ein Krieg ums Erdöl brennt. Aber das ist etwas, das uns im direkten Leben alle betrifft. Sie schreiben in ihrem Buch, dass Fridays for Future gewonnen hat. Was ist damit gemeint? Es gibt kein ernstzunehmendes Unternehmen mehr, dass sich nicht mit dem Thema „Nachhaltigkeit“ beschäftigt. Vor einigen Jahren gab es noch genug Firmen, die dachten, sie können sich wegduckten unter dem nervigen Trend. Mittlerweile setzten sich sogar Unternehmen wie Shell ernsthaft damit auseinander. Vor nicht allzu langer Zeit drehte sich der Diskurs darum, ob das mit dem Klimawandel überhaupt stimmt. Das zweifelt heute keiner mehr an und die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie wir es anpacken. Deshalb haben die Ökos gewonnen - und mit Ökos meine ich die Wissenschaft. Es ist ein guter Anfang, dass wir da größtenteils eine gemeinsame Realität haben. Mit der Klimabewegung ist auch ein großer Generationenkonflikt sichtbar geworden. Ist der mittlerweile gelöst? Die Boomer waren die Bösen, was aber vergessen wurde ist, dass sie was Frauenrechte, Rechte für Homosexuelle und auch Ökologie angeht eigentlich sehr viel bewegt haben – auch wenn sie jetzt im Nachhinein ein bisschen spießig wirken. Aber die junge Generation wird auch irgendwann spießig erscheinen. So ist gesellschaftlicher Fortschritt und das ist völlig in Ordnung. Wenn man die Vergangenheit und die Lebensrealität der unterschiedlichen Generationen versteht, kann das auch zur Vereinigung führen. Gerade merken wir doch, wie all diese Konflikte belanglos werden. Vielleicht lässt uns das zusammenrücken. Was bedeutet das für das Thema „Individualismus“ – bleibt der Trend so dominant, oder bewegen wir uns durch die vielen Krisen wieder näher aufeinander zu?  Es ist ja kein Entweder-oder. Entweder wir sind alle rechte Nazis oder wir sind alle woke Individualisten, die ihre Shakes trinken und glutenintolerant sind. Die produktivsten Gesellschaften sind die, die verstehen, dass die Formel lautet: Gemeinsam verscheiden sein. Es geht um gewisse Grundwerte, auf die man sich einigen muss. Und dann darf man so individuell sein, wie man will. Wenn man eine völlig gleiche Gesellschaft hat, dann braucht man nur einen politischen Virus, um alle umzuhauen. Das passiert in einer heterogenen Gesellschaft nicht. Dafür gibt es halt mehr Streit und mehr Konflikte. Und wenn man mit diesem Spannungsfeld nicht umgehen kann, lässt man sich schnell von dem Denken locken: „Es wäre doch einfacher, alle wären wie ich“. Aber das ist nicht zukunftsfähig, weil es sehr unproduktiv ist.

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