Die Schweiz, Anfang März, in Zürich-Kloten. Von außen wirkt es wie eine bürgerliche Idylle, in der Tania und Yves Woodhatch leben und arbeiten. Doch mit „Bünzlitum“ (Spießbürgertum) hat ihre Firma „Würzmeister“ nichts am Hut.
Eine Erfolgsgeschichte?
Die Woodhatches sind Sozialunternehmer. Geboren aus Yves Begeisterung für Gewürze, stellt die Firma mittlerweile über 50 Mischungen in Bio-Eigenproduktion her. Daneben betreuen sie rund 20 Menschen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt, keine Chance mehr haben. Sie helfen ihnen beim Abfüllen, Beschriften und Verschicken der Gewürzdosen. Das Geschäft läuft: Das Corona-Jahr 2020 hat „Würzmeister“ buchstäblich zum Explodieren gebracht. In einem Monat erzielten sie teilweise so viel Umsatz wie im ersten Geschäftsjahr. Über 60 Einzelhändler in der Schweiz, Deutschland und Hongkong verkaufen bereits ihre Gewürze. Es ist ein Allzeit-Rekord. Und er hört nicht auf.
Die Gewürze ohne Zusatzstoffe sind derart stark gefragt, dass die Firma quer durch die Etagen des Hauses von Tania und Yves quillt: Zwei Kellerräume, einen halben Trockenraum sowie die gesamte Wohnung nimmt die Firma derzeit in Beschlag. Deshalb haben die beiden einen externen Lagerraum dazu gemietet. Ihre Wohnung ist gleichzeitig Arbeitsfläche, Mittagstisch, Aufenthaltsraum und Wohnfläche. Privatsphäre für die Woodhatches: Fehlanzeige. Einzig das Schlafzimmer wird nicht geteilt. „Heute hast du sogar Glück, die Couch ist zur Hälfte frei“, lacht Tania schelmisch.
Die 40-Jährige ist Geschäftsführerin von Würzmeister und betreut um die 20 Menschen, die mal mehr oder weniger mitanpacken können. Zwei Teilzeitangestellte und ein Auszubildender sind auch darunter. Obwohl der Arbeitstag theoretisch um 07:45 beginnt, trudeln die meisten erst zwischen 10 und 11 Uhr ein. Für viele hier sei der Morgen schwierig. Schlafstörungen sind Alltag. Tania zeigt ein Bild des Teams: eine Vielzahl an Menschen und Hautfarben. Nicht einer Person sieht man an, dass sie krank sein könnte. Auch nicht der Frau, die am Tisch nebenan Gewürzdosen beklebt.
Yves kommt aus der Küche und bietet zur Begrüßung Kaffee an. Ein sanfter Gewürzduft liegt in der Luft. Im April wird die Firma in ein kleines Ladenlokal an einer belebten Klotener Einkaufsstraße ziehen. Dann wird man die Gewürze direkt aus der Produktionsstätte kaufen können und die Wohnung der Woodhatches wird wieder mehr Privatwohnung denn Geschäftsstelle sein. Eine volle Erfolgsgeschichte? „Eine, die fast in die Hosen gegangen wäre“, erzählt Tania.
Ins Stolpern geraten
Gegründet hat Yves die Firma 2012. Zuvor hat er über 17 Jahre in geschützten Werkstätten gearbeitet. Ein Unfall als Jugendlicher hat ihm den Rücken kaputtgemacht. Bandscheibenvorfälle und chronische Schmerzen belasten den 44-Jährigen seitdem – „und auch ein paar weitere psychische Herausforderungen.“ Yves spricht unverblümt und direkt. Von Anfang an sei ihm klar gewesen, dass er aus seiner Vergangenheit kein Geheimnis machen wolle. Für ihn sei es schwer gewesen, nach dem Unfall mit beeinträchtigen Menschen jeglicher Art in eine Schublade gesteckt zu werden: „Als gelernter Straßenbauer, war ich es gewohnt, im Akkord zu arbeiten. In einer geschützten Werkstätte hätte ich an einem Tag ein einziges Glasschälchen bemalen sollen.
Dabei macht es einen großen Unterschied, ob jemand physisch oder geistig beeinträchtigt ist.“ Dazu kommt, dass seine erste Ehe 2001 nach kaum einem Jahr geschieden wird – die Perspektivlosigkeit treibt Yve damals in eine Krise. Er beginnt, Drogen zu konsumieren. Eine Nadel habe er nie angerührt, aber alles, was durch die Nase ging und Alkohol. Halt in der Familie findet er nicht. Die eigene Mutter heizt sogar die Gerüchteküche in der Kleinstadt an, in der Yves aufgewachsen ist und zeitweise obdachlos lebt. Es braucht mehrere Entzüge, bis er von den Drogen loskommt.
Heute ist Yves Woodhatch der kreative Kopf der Firma und tüftelt gerne an Gewürzmischungen. Ohne seine Nase gäbe es die Firma nicht. Doch im operativen Geschäft ist er wegen seiner Einschränkungen wenig belastbar. Ohne seine Frau Tania wäre Würzmeister undenkbar.
Richtiger Riecher trifft klugen Kopf
Tania trägt kurze blaue Haare und Smokey Eyes. Sie selbst bezeichnet sich als Kopfmensch. Sie weiß genau, wo was lagert und kennt alle Zahlen. Gleichzeitig entgeht es ihr nicht, wo die Menschen stehen. Sie ist eine aufmerksame, wache, aber genauso warmherzige CEO. Nach dem Abitur arbeitet sie bei einer Bank. Einerseits wegen ihrer englischen Wurzeln und ihrer Sprachbegabung. Andererseits, weil sie nicht so recht weiß, was sie sonst tun soll. Mit Anfang 20 findet sie als überzeugte Atheistin zum christlichen Glauben. Nach und nach beginnt sie, ihren Lebensweg zu reflektieren. Sie kommt zum Schluss, dass sie mehr bewegen möchte, als reiche Privatkunden bei der Bank zu betreuen.
In den Folgejahren arbeitet sie bei verschiedenen Stiftungen und beginnt Lernende auszubilden. Sie schnuppert in die Buchhaltung, ins Marketing, macht Kommunikation. Es ist Allrounder-Arbeit, von der sie bis heute profitiert. Bei einem internationalen Hilfswerk stellt sie zum ersten Mal einen Mitarbeiter ein, der nach einem schweren Unfall in den Arbeitsmarkt reintegriert werden soll. Es gelingt derart gut, dass beständig neue Personen auf diese Weise Arbeit erhalten. Den Blick für Menschen mit in ihren Worten „krummem Lebenslauf“ behält sie fortan. Vier Jahre arbeitet sie bei einer weiteren Stiftung, bis die Doppelbelastung mit Job und Würzmeister zu groß wird: 2016 kündet sie ihre Stelle und steigt voll im neuen Startup ein.
Ohne wenn und aber
Kennengelernt haben sich Yves und Tania 2008 auf einem christlichen Dating-Portal. Die Anzeige hat Tania bis heute behalten: „Als ehemalige Atheistin, wünschte ich mir jemanden mit einer spannenden Lebensgeschichte und einer weiten Perspektive.“ An Yves Anzeige gefiel ihr die Ehrlichkeit. Er habe nichts beschönigt: „Ehemaliger Satanist, Drogenabhängiger und Geschiedener“ steht auf dem laminierten Stück Internet, das Yves aus der Schachtel mit den Hochzeitserinnerungen holt. Für ihn sei sofort klar gewesen, dass Tania die Richtige sei: „Nach dem ersten Date habe ich ihr Foto als Handyhintergrund genommen und allen gesagt, sie sei meine Freundin. Erst in einem Telefonat zwei Wochen später sagte sie am Telefon: ‚Die Antwort ist übrigens ja‘.“
Yves lebt das Leben ohne Konjunktiv, das bestätigt auch Tania. Es sei eine Stärke und eine Herausforderung: Mit Konjunktiv hätte er nie den Schritt aus den geschützten Werkstätten gewagt. Gleichzeitig bringe er sich damit zeitweise an seine Grenzen: Nach 17 Jahren enger Betreuung in die berufliche Selbstständigkeit zu wechseln – damals noch in einem einzelnen kleinen Kellerraum – hat ihn sehr gefordert und wohl auch überfordert.
Yves beginnt kurz nach der Gründung von Würzmeister wieder zu trinken. Anfangs versucht er es zu verheimlichen, bis es nicht mehr geht. Ein Entzug ist unumgänglich. Dass die Firma über ein Jahr ohne Gewürzentwickler klarkommen muss, geht nur knapp. Tania packt neben ihrem Vollzeit-Job tatkräftig mit an, entwickelt sogar ein Gewürz, das heute zu den Bestsellern gehört. Mittlerweile ist Yves schon lange zurück. Hundertprozentig belastbar ist er trotzdem nicht. Er hat Freude daran, Gewürze zu entwickeln, doch manchmal mangelt es an Kraft. Der Rucksack, den er auf seinem Lebensweg mitbekommen hat, lässt sich nicht mal eben ablegen.
Auf Augenhöhe
Dass verworrene Biografien in einem beruflichen Kontext Platz finden, zeichnet die „Würzmeister“ aus: „Auf Messen bleiben wir Menschen wegen unserer bewegten Lebensgeschichte in Erinnerung. Sie sind oft sehr berührt“, erzählt Tania. Wo andere unter den vielen Herausforderungen zusammenkrachen, begegnen Yves und Tania den Menschen auf Augenhöhe. Für sie ist klar, dass sie die Menschen nicht retten können und retten wollen.
Die Menschen im Gebet loszulassen und Musik zu machen, gibt ihnen viel Kraft: „Wir hören beim Arbeiten christliches Radio. Das schafft eine positive Atmosphäre“, meint Yves. Wenn Tania in der Hektik des Alltags Zeit findet, spielt sie ab und zu am Piano ein paar Lieder: „Viele, die hier arbeiten, haben wenige Berührungspunkte mit dem Glauben, oder er sagt ihnen wenig. Aber die Musik gefällt ihnen.“ Einmal im Jahr nach dem Weihnachtsgeschäft, wenn der größte Ansturm vorüber ist, reisen Yves und Tania unter normalen Umständen nach Thailand. Tanias Mutter besitzt dort ein Ferienhaus, in dem die beiden drei Wochen lang auftanken können.
Unbürokratische Hilfe
Aber weshalb haben sich die beiden dazu entschieden, mit Menschen zu arbeiten, die wenig belastbar sind und man nicht genau weiß, ob und wann sie kommen? „Da ich selbst den Weg aus einer Lebenskrise herausfinden durfte, wollte ich etwas dazu beitragen, dass es weiteren Menschen gelingt, etwas Halt zu finden.“ Yves hat selbst erfahren, wie wenig es braucht, dass ein Mensch durch sämtliche Maschen der Sozialhilfe fällt. Tania und Yves bieten persönliche Arbeitsstrukturen und niederschwellige, abwechslungsreiche Arbeit.
Ihren Gruppenchat nennen sie „Würzmeister-Family“. Da sie an keine staatlichen Einrichtungen und Formalitäten gebunden sind, können die Woodhatches rasch und unbürokratisch helfen: „Das Ding mit den Gewürzen ist in vielerlei Hinsicht zweitrangig“, sind sich die beiden einig. „Wichtiger ist es doch, Menschen neue Chancen zu geben.“ Tania ergänzt: „Ich hätte meinen Job doch nicht zu kündigen brauchen, wenn es lediglich darum gegangen wäre, ein Unternehmen zu führen.
Menschen zu begleiten war für mich schon immer zentral.“ Wenn es einen Tag gibt, an dem rekordhohe Bestellungen eintrudeln, wird auch mal mit Kuchen gefeiert: „Menschen, die sonst sehr wenige Erfolge im Leben feiern können, tut das enorm gut. Aber ganz abgesehen davon ist Gewürze abfüllen, bekleben, verpacken und verschicken eine sehr schöne, sinnliche Arbeit.“