Gewürzmischung

Leben ohne Konjunktiv

Tanja und Yves Woodhatch produzieren mit ihrer Firma „Würzmeister“ über 50 Gewürzmischungen. Dabei geht es ihnen darum, Menschen in eine Gemeinschaft einzubinden – die Gewürze spielen in ihrer Vision auch mal die zweite Geige.

Die Schweiz, Anfang März, in Zürich-Kloten. Von außen wirkt es wie eine bürgerliche Idylle, in der Tania und Yves Woodhatch leben und arbeiten. Doch mit „Bünzlitum“ (Spießbürgertum) hat ihre Firma „Würzmeister“ nichts am Hut.

Eine Erfolgsgeschichte?

Die Woodhatches sind Sozialunternehmer. Geboren aus Yves Begeisterung für Gewürze, stellt die Firma mittlerweile über 50 Mischungen in Bio-Eigenproduktion her. Daneben betreuen sie rund 20 Menschen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt, keine Chance mehr haben. Sie helfen ihnen beim Abfüllen, Beschriften und Verschicken der Gewürzdosen. Das Geschäft läuft: Das Corona-Jahr 2020 hat „Würzmeister“ buchstäblich zum Explodieren gebracht. In einem Monat erzielten sie teilweise so viel Umsatz wie im ersten Geschäftsjahr. Über 60 Einzelhändler in der Schweiz, Deutschland und Hongkong verkaufen bereits ihre Gewürze. Es ist ein Allzeit-Rekord. Und er hört nicht auf. Die Gewürze ohne Zusatzstoffe sind derart stark gefragt, dass die Firma quer durch die Etagen des Hauses von Tania und Yves quillt: Zwei Kellerräume, einen halben Trockenraum sowie die gesamte Wohnung nimmt die Firma derzeit in Beschlag. Deshalb haben die beiden einen externen Lagerraum dazu gemietet. Ihre Wohnung ist gleichzeitig Arbeitsfläche, Mittagstisch, Aufenthaltsraum und Wohnfläche. Privatsphäre für die Woodhatches: Fehlanzeige. Einzig das Schlafzimmer wird nicht geteilt. „Heute hast du sogar Glück, die Couch ist zur Hälfte frei“, lacht Tania schelmisch. Die 40-Jährige ist Geschäftsführerin von Würzmeister und betreut um die 20 Menschen, die mal mehr oder weniger mitanpacken können. Zwei Teilzeitangestellte und ein Auszubildender sind auch darunter. Obwohl der Arbeitstag theoretisch um 07:45 beginnt, trudeln die meisten erst zwischen 10 und 11 Uhr ein. Für viele hier sei der Morgen schwierig. Schlafstörungen sind Alltag. Tania zeigt ein Bild des Teams: eine Vielzahl an Menschen und Hautfarben. Nicht einer Person sieht man an, dass sie krank sein könnte. Auch nicht der Frau, die am Tisch nebenan Gewürzdosen beklebt. Yves kommt aus der Küche und bietet zur Begrüßung Kaffee an. Ein sanfter Gewürzduft liegt in der Luft. Im April wird die Firma in ein kleines Ladenlokal an einer belebten Klotener Einkaufsstraße ziehen. Dann wird man die Gewürze direkt aus der Produktionsstätte kaufen können und die Wohnung der Woodhatches wird wieder mehr Privatwohnung denn Geschäftsstelle sein. Eine volle Erfolgsgeschichte? „Eine, die fast in die Hosen gegangen wäre“, erzählt Tania.

(c) Würzmeister

Ins Stolpern geraten

Gegründet hat Yves die Firma 2012. Zuvor hat er über 17 Jahre in geschützten Werkstätten gearbeitet. Ein Unfall als Jugendlicher hat ihm den Rücken kaputtgemacht. Bandscheibenvorfälle und chronische Schmerzen belasten den 44-Jährigen seitdem – „und auch ein paar weitere psychische Herausforderungen.“ Yves spricht unverblümt und direkt. Von Anfang an sei ihm klar gewesen, dass er aus seiner Vergangenheit kein Geheimnis machen wolle. Für ihn sei es schwer gewesen, nach dem Unfall mit beeinträchtigen Menschen jeglicher Art in eine Schublade gesteckt zu werden: „Als gelernter Straßenbauer, war ich es gewohnt, im Akkord zu arbeiten. In einer geschützten Werkstätte hätte ich an einem Tag ein einziges Glasschälchen bemalen sollen. Dabei macht es einen großen Unterschied, ob jemand physisch oder geistig beeinträchtigt ist.“ Dazu kommt, dass seine erste Ehe 2001 nach kaum einem Jahr geschieden wird – die Perspektivlosigkeit treibt Yve damals in eine Krise. Er beginnt, Drogen zu konsumieren. Eine Nadel habe er nie angerührt, aber alles, was durch die Nase ging und Alkohol. Halt in der Familie findet er nicht. Die eigene Mutter heizt sogar die Gerüchteküche in der Kleinstadt an, in der Yves aufgewachsen ist und zeitweise obdachlos lebt. Es braucht mehrere Entzüge, bis er von den Drogen loskommt.
Heute ist Yves Woodhatch der kreative Kopf der Firma und tüftelt gerne an Gewürzmischungen. Ohne seine Nase gäbe es die Firma nicht. Doch im operativen Geschäft ist er wegen seiner Einschränkungen wenig belastbar. Ohne seine Frau Tania wäre Würzmeister undenkbar.

Richtiger Riecher trifft klugen Kopf

Tania trägt kurze blaue Haare und Smokey Eyes. Sie selbst bezeichnet sich als Kopfmensch. Sie weiß genau, wo was lagert und kennt alle Zahlen. Gleichzeitig entgeht es ihr nicht, wo die Menschen stehen. Sie ist eine aufmerksame, wache, aber genauso warmherzige CEO. Nach dem Abitur arbeitet sie bei einer Bank. Einerseits wegen ihrer englischen Wurzeln und ihrer Sprachbegabung. Andererseits, weil sie nicht so recht weiß, was sie sonst tun soll. Mit Anfang 20 findet sie als überzeugte Atheistin zum christlichen Glauben. Nach und nach beginnt sie, ihren Lebensweg zu reflektieren. Sie kommt zum Schluss, dass sie mehr bewegen möchte, als reiche Privatkunden bei der Bank zu betreuen. In den Folgejahren arbeitet sie bei verschiedenen Stiftungen und beginnt Lernende auszubilden. Sie schnuppert in die Buchhaltung, ins Marketing, macht Kommunikation. Es ist Allrounder-Arbeit, von der sie bis heute profitiert. Bei einem internationalen Hilfswerk stellt sie zum ersten Mal einen Mitarbeiter ein, der nach einem schweren Unfall in den Arbeitsmarkt reintegriert werden soll. Es gelingt derart gut, dass beständig neue Personen auf diese Weise Arbeit erhalten. Den Blick für Menschen mit in ihren Worten „krummem Lebenslauf“ behält sie fortan. Vier Jahre arbeitet sie bei einer weiteren Stiftung, bis die Doppelbelastung mit Job und Würzmeister zu groß wird: 2016 kündet sie ihre Stelle und steigt voll im neuen Startup ein.

Ohne wenn und aber

Kennengelernt haben sich Yves und Tania 2008 auf einem christlichen Dating-Portal. Die Anzeige hat Tania bis heute behalten: „Als ehemalige Atheistin, wünschte ich mir jemanden mit einer spannenden Lebensgeschichte und einer weiten Perspektive.“ An Yves Anzeige gefiel ihr die Ehrlichkeit. Er habe nichts beschönigt: „Ehemaliger Satanist, Drogenabhängiger und Geschiedener“ steht auf dem laminierten Stück Internet, das Yves aus der Schachtel mit den Hochzeitserinnerungen holt. Für ihn sei sofort klar gewesen, dass Tania die Richtige sei: „Nach dem ersten Date habe ich ihr Foto als Handyhintergrund genommen und allen gesagt, sie sei meine Freundin. Erst in einem Telefonat zwei Wochen später sagte sie am Telefon: ‚Die Antwort ist übrigens ja‘.“

Yves lebt das Leben ohne Konjunktiv, das bestätigt auch Tania. Es sei eine Stärke und eine Herausforderung: Mit Konjunktiv hätte er nie den Schritt aus den geschützten Werkstätten gewagt. Gleichzeitig bringe er sich damit zeitweise an seine Grenzen: Nach 17 Jahren enger Betreuung in die berufliche Selbstständigkeit zu wechseln – damals noch in einem einzelnen kleinen Kellerraum – hat ihn sehr gefordert und wohl auch überfordert. Yves beginnt kurz nach der Gründung von Würzmeister wieder zu trinken. Anfangs versucht er es zu verheimlichen, bis es nicht mehr geht. Ein Entzug ist unumgänglich. Dass die Firma über ein Jahr ohne Gewürzentwickler klarkommen muss, geht nur knapp. Tania packt neben ihrem Vollzeit-Job tatkräftig mit an, entwickelt sogar ein Gewürz, das heute zu den Bestsellern gehört. Mittlerweile ist Yves schon lange zurück. Hundertprozentig belastbar ist er trotzdem nicht. Er hat Freude daran, Gewürze zu entwickeln, doch manchmal mangelt es an Kraft. Der Rucksack, den er auf seinem Lebensweg mitbekommen hat, lässt sich nicht mal eben ablegen.

(c) Würzmeister

Auf Augenhöhe

Dass verworrene Biografien in einem beruflichen Kontext Platz finden, zeichnet die „Würzmeister“ aus: „Auf Messen bleiben wir Menschen wegen unserer bewegten Lebensgeschichte in Erinnerung. Sie sind oft sehr berührt“, erzählt Tania. Wo andere unter den vielen Herausforderungen zusammenkrachen, begegnen Yves und Tania den Menschen auf Augenhöhe. Für sie ist klar, dass sie die Menschen nicht retten können und retten wollen. Die Menschen im Gebet loszulassen und Musik zu machen, gibt ihnen viel Kraft: „Wir hören beim Arbeiten christliches Radio. Das schafft eine positive Atmosphäre“, meint Yves. Wenn Tania in der Hektik des Alltags Zeit findet, spielt sie ab und zu am Piano ein paar Lieder: „Viele, die hier arbeiten, haben wenige Berührungspunkte mit dem Glauben, oder er sagt ihnen wenig. Aber die Musik gefällt ihnen.“ Einmal im Jahr nach dem Weihnachtsgeschäft, wenn der größte Ansturm vorüber ist, reisen Yves und Tania unter normalen Umständen nach Thailand. Tanias Mutter besitzt dort ein Ferienhaus, in dem die beiden drei Wochen lang auftanken können.

Unbürokratische Hilfe

Aber weshalb haben sich die beiden dazu entschieden, mit Menschen zu arbeiten, die wenig belastbar sind und man nicht genau weiß, ob und wann sie kommen? „Da ich selbst den Weg aus einer Lebenskrise herausfinden durfte, wollte ich etwas dazu beitragen, dass es weiteren Menschen gelingt, etwas Halt zu finden.“ Yves hat selbst erfahren, wie wenig es braucht, dass ein Mensch durch sämtliche Maschen der Sozialhilfe fällt. Tania und Yves bieten persönliche Arbeitsstrukturen und niederschwellige, abwechslungsreiche Arbeit. Ihren Gruppenchat nennen sie „Würzmeister-Family“. Da sie an keine staatlichen Einrichtungen und Formalitäten gebunden sind, können die Woodhatches rasch und unbürokratisch helfen: „Das Ding mit den Gewürzen ist in vielerlei Hinsicht zweitrangig“, sind sich die beiden einig. „Wichtiger ist es doch, Menschen neue Chancen zu geben.“ Tania ergänzt: „Ich hätte meinen Job doch nicht zu kündigen brauchen, wenn es lediglich darum gegangen wäre, ein Unternehmen zu führen. Menschen zu begleiten war für mich schon immer zentral.“ Wenn es einen Tag gibt, an dem rekordhohe Bestellungen eintrudeln, wird auch mal mit Kuchen gefeiert: „Menschen, die sonst sehr wenige Erfolge im Leben feiern können, tut das enorm gut. Aber ganz abgesehen davon ist Gewürze abfüllen, bekleben, verpacken und verschicken eine sehr schöne, sinnliche Arbeit.“

Fabienne Iff

lebt, studiert und arbeitet in Zürich.

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Männliche Hebamme Tobias

#malemidwife

Tobias, du bist eine männliche Hebamme. Ist das die korrekte Bezeichnung? Ja, seit diesem Jahr ist die offizielle Bezeichnung Hebamme. Vorher hieß es Entbindungspfleger, das steht auch auf meiner Ausbildungsurkunde. Ende letzten Jahres wurde dann das Hebammengesetz reformiert. Neben der geänderten Berufsbezeichnung studieren angehende Hebammen jetzt fast ausschließlich. Der Begriff hat ja einen weiblichen Ursprung - er leitet sich von der Großmutter, die das Neugeborene aufhebt, ab. Genau, es kommt von der Großmutter oder Ahnin, die das Kind aufhält und damit in diese Welt begleitet. Als Berufsbezeichnung ist das heute aber geschlechterneutral. Also kannst du dich trotzdem mit der Bezeichnung identifizieren? Besser als mit dem Entbindungspfleger, denn da wusste einfach niemand was wir machen. Ich wurde ständig gefragt, ob ich auch bei der Geburt dabei bin. Seit ich Hebamme sage, gab es da keine Missverständnisse mehr. Warum hast du dich für den Beruf entschieden? Ich bin durch meine Mama auf den Beruf gekommen. Die ist schon ganz lange Hebamme und ich bin damit großgeworden. Ich wusste schon früh, was es heißt Schichtdienst zu haben oder auch an den Feiertagen arbeiten zu müssen. Vor dem Berufswahlpraktikum in der Schule hatte ich mich schon viel mit dem Beruf auseinandergesetzt und wollte mir das gerne mal anschauen. Leider ging das nicht bei mir in der Gegend und so habe ich mir den Job des Gesundheits- und Krankenpflegers angeschaut. Das war aber nicht so mein Ding. Mit 15 bin ich dann nach Berlin gefahren und habe meine ersten Praktika in dem Krankenhaus gemacht, in dem ich heute arbeite. Da habe ich den Beruf kennengelernt, mit allem, was dazugehört. Danach war mir klar, dass ich das machen wollte. Was ist denn das Highlight in deinem Beruf? Aktiv dabei zu sein, die Geburt zu begleiten und die Frauen zu unterstützen. Paare ins Elternwerden zu begleiten - das ist, warum ich Hebamme geworden bin. Wie viele Geburten hast du denn bisher begleitet? 352 Mit welchen Klischees bist du in einem Beruf, in dem fast ausschließlich Frauen arbeiten, konfrontiert? Was mir immer wieder begegnet, ist die Aussage, dass ich das als Mann nicht nachempfinden kann, weil ich nicht weiß, wie sich Wehenschmerzen anfühlen. Es ist mir auch schon passiert, dass man mich auf Social Media beleidigt hat. Was mir auch manchmal begegnet, ist die Angst, dass Männer jetzt auch noch den letzten „weiblichen“ Beruf erobern würden. Wie gehst du damit um? Als ich 2015 mit der Hebammerei angefangen habe, habe ich mich oft in Diskussionen wiedergefunden. Das ist aber mit den Jahren weniger geworden. Klar, wenn ich was auf Instagram poste, dann entbrennt in den Kommentaren öfter mal eine Diskussion. Es gibt Frauen, die schreiben dann, dass sie sich auf gar keinen Fall von mir betreuen lassen würden oder Kolleginnen, die nicht wollen, dass Männer sich vordrängeln und den Beruf an sich reißen. Bei zehn männlichen Hebammen in ganz Deutschland wird das allerdings ein langer Weg. Ich glaube, man muss da einfach schlagfertig reagieren. Ich habe echt viele tolle Hebammen kennengelernt, aber auch einige, wo ich dachte: Bei der würde ich kein Kind bekommen wollen, wenn ich eine Frau wäre. Aber wir sind ein so kleiner Berufstand – es gibt eigentlich ganz andere Themen, die wir gemeinsam angehen sollten, statt uns gegenseitig fertig zu machen. Was sagst du zu dem Argument, dass du als Mann gar nicht nachempfinden kannst, wie es ist ein Kind zur Welt zu bringen? Bei einer Herz-OP hilft es dir ja auch nicht, wenn der Chirurg selbst einen Herzschrittmacher hat. Expertise im medizinischen Bereich ist nicht unbedingt auf persönliche Erfahrung zurückzuführen. Die braucht man auch gar nicht, um eine gute Arbeit zu machen. Wir müssen vor allem empathisch gegenüber den Frauen sein und uns versuchen so gut es geht in sie hineinzuversetzen. Mein Job ist es, das bestmögliche für die Paare rauszuholen und das ist unabhängig vom Chromosomensatz. Wer eine gute Hebamme ist und wer nicht, lässt sich nicht am Geschlecht festmachen. Welche Fähigkeiten braucht eine gute Hebamme denn, abgesehen von Einfühlungsvermögen? Geduld. Außerdem sollte man relaxed sein und die Frauen nicht unter Druck setzten. In der Geburtshilfe gibt es immer viele neue und interessante Sachen – da ist Wissensdurst auf jeden Fall hilfreich. Wie sind die Reaktionen der werdenden Eltern? Überwiegend positiv. Ganz selten haben Menschen damit ein Problem, dass ich ein Mann bin. Ich bekomme oft Dankeskarten, in denen die Mütter schreiben, dass sich ihre anfänglichen Bedenken als unbegründet rausgestellt haben und sie mir dankbar sind. Ich finde das total schön, weil die Frauen ganz ehrlich sagen, dass sie Vorurteile hatten, die aber danach ablegen konnten. Solche Geschichten zeigen aber auch, dass wir Menschen sehr schnell vorverurteilen oder uns eine Meinung über etwas bilden, was wir gar nicht kennen. Wie war das mit deinen Kolleginnen, mit denen du täglich arbeitest? Ich habe ein tolles Team, mit dem ich gerne zusammenarbeite. Manche davon waren anfangs ein bisschen skeptisch und wir mussten uns erst aneinander gewöhnen. Manchmal passiert es mir heute noch, dass ich von Kolleginnen gefragt werde, ob ich denn überhaupt allein eine Frau untersuchen oder eine Geburt begleiten darf. Dabei mache ich das ja schon seit zwei Jahren. Ich hatte mal eine Kollegin, die total dagegen war, dass ich als Mann in diesem Beruf arbeite. Sie hat das ganz klar gezeigt und auch so gesagt. Bis vor einem Monat hatte ich noch einen männlichen Kollegen, der das auch zu spüren bekommen hat. Und das, obwohl es in anderen Ländern schon relativ normal ist, dass Männer in diesem Beruf arbeiten. Ja in Italien, Frankreich, den Niederlanden oder Belgien ist das schon deutlich verbreiteter als in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Aber man muss auch sagen, dass sich da in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen hat. Als ich mich 2015 beworben habe, gab es außer mir keinen anderen Mann, der sich in Deutschland beworben hat. In den letzten Jahren hat sich das Schritt für Schritt verändert. Nicht rasant, aber da tut sich etwas. War es easy einen Ausbildungsplatz zu finden? Ich habe damals über 40 Bewerbungen geschrieben, hatte sieben Einladungen, fünf Bewerbungsgespräche und nur eine direkte Zusage. Was bräuchte es, damit der Job auch für Männer interessanter wird? Ich glaube, es wurde nie sehr viel Werbung für den Beruf der Hebamme gemacht. In der Öffentlichkeit war stattdessen viel Negatives zu hören – man verdient schlecht, arbeitet viel, schiebt Wochenendschichten. Die negativen Seiten gibt es natürlich, wenn man die aber so überbetont, ist es klar, dass sich niemand für den Beruf interessiert. Ich höre außerdem öfter, dass es gerade für Männer ein uninteressanter Job ist, weil man in dem Beruf so wenig Geld verdient. Da spielt dann noch ein anderes Klischee eine Rolle. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass eine Berufseignung für den Job viel wichtiger ist als das Geschlecht. Nutzt du deinen Instagram-Account zur Aufklärung? Hauptsächlich geht es auf Insta natürlich um meinen Beruf. Vielleicht sieht der ein oder andere dadurch, dass ich genau die gleichen Sachen mache, wie meine Kolleginnen. Ich habe ganz normale Wochenbettbesuche, gebe Vorbereitungskurse und gehe im Kreissaal meiner Arbeit nach. Was bedeutet der #malemidwife für dich? Es ist das internationale Pendant zum #männlichehebamme. Ich find das ganz gut, um den Blick über den Tellerrand zu heben und zu sehen, dass es in anderen Ländern schon ganz normal ist als Mann in dem Job zu arbeiten.

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Follower und Arbeitstier

Leidenschaft und Können, ne dicke Gehaltsabrechnung oder ein safes Ding mit wenig Risiko – was hat Prio bei der Jobsuche? Und was willst du mal werden? Jeder, der diese Frage stellt, könnten genauso gut fragen, ob Licht eine Welle oder ein Teilchen ist. Woher soll man das wissen? Vor allem wenn man noch nie in einem Beruf gearbeitet hat. Schließlich gibt es eine überwältigende Menge unterschiedlicher Jobs, wie Kartoffelchips-Schäler, Glockenmacher, Pilzzüchter, Seilbahnkabel-Schmierer, Geruchslabor-Techniker, Special-Effects-Künstler und noch viele mehr. Die Antwort sollte dann auch noch gut überlegt sein, denn die Arbeit nimmt für 40 bis 50 Jahre sechs bis zehn Stunden unseres Tages ein und selten weiß man vorher, ob man mit seiner Berufswahl zufrieden sein wird. Aber no pressure. Dirty jobs Der US-Moderator Mike Rowe hat in der Fernsehsendung „Dirty Jobs – Arbeit, die keiner machen will“ über die Jahre so einige skurrile Jobs präsentiert, von denen die wenigsten wüssten, dass es sie überhaupt gibt. In dem Format trifft er auch Menschen, die unter widrigen oder sogar widerlichen Bedingungen arbeiten. Und dennoch strahlen manche von ihnen eine große Zufriedenheit aus oder sind sogar mit Stolz erfüllt. Wie findet man also einen Job, der zufrieden macht? Welche Rolle spielt dabei Geld oder Sicherheit? Und muss eine zufriedenstellende Arbeit sinnvoll oder sogar wohltätig sein? Erfüllt Erfolg? Es scheint ein unausgesprochenes Gesetz zu geben, dass Karriere und Zufriedenheit Hand in Hand gehen. Und ein abgeschlossenes Studium natürlich das Fundament dafür ist. Denn schließlich ist der Aufstieg und Erfolg dann quasi vorprogrammiert. Und auch wenn das natürlich Blödsinn ist, stehen wir immer noch vor dem Problem: Wie definiert sich Erfolg, woran wollen wir ihn messen und wer garantiert uns, dass er Glück und Zufriedenheit hervorbringt? Zweifel an dem Konzept wecken Menschen wie Henri Nouwen, der eine Top-Position als Professor in Harvard niederlegte, um einer kleinen Community als Pastor zu dienen. Dabei übernahm er die Verantwortung für Adam, einen schwerbehinderten Mann, und half ihm täglich bei grundlegenden Dingen wie dem An- und Ausziehen. „Ich bin es, nicht Adam, der im Grunde durch diese Freundschaft profitiert“, wurde er Jahre später zitiert. Eine Arbeit zu übernehmen, die offensichtlich unter Nouwens akademischen Niveau lag, hat ihn dennoch erfüllt. Mit dem Lambo in die Alptraumfabrik Zufriedenheit kann also weder mit Reputation noch zwangsläufig mit einem hohen Gehalt zusammenhängen. Denn wäre das so, müssten all die reichen Hollywood-Stars oder hochbezahlten Sportler die glücklichsten und zufriedensten Menschen überhaupt sein. Doch Beziehungsprobleme, Suizide, Depressionen oder Alkoholsucht verschonen auch sie nicht. Wer seine Berufswahl von den Moneten abhängig macht, ganz egal, ob ihm die Arbeit steht, könnte daher in Schwierigkeiten kommen. Das Geld findet schließlich nur in der Zeit außerhalb der Arbeit Verwendung, während die eigentliche Tätigkeit den Großteil des Lebens einnimmt. Ist es nicht bitter, Zeit mit etwas zu verbringen, was uns nicht zufrieden macht, nur damit wir nen Lambo fahren und dreimal im Jahr in den Urlaub fliegen können? Verdächtig sicher Manch einer sehnt sich nach Ruhe und Beständigkeit im Job und verspricht sich dadurch Zufriedenheit. Und tatsächlich bewahrt Sicherheit vielleicht vor der einen oder anderen schlaflosen Nacht. Ein ruhiger Job wühlt nach Feierabend nicht mehr auf. Man macht sich die Hände nicht schmutzig und die Last der Verantwortung drückt einem die Schulter nicht ein. Aber Achtung, auch das Streben nach Sicherheit kann heimlich zum Gefängnis werden. Wir geben Freiheiten und Leidenschaften auf, um Gewissheit zu erlangen. Dabei gehört zum Leben dazu, selbst Verantwortung zu übernehmen und mit Ungewissheiten konfrontiert zu werden. Das Navigieren in eine unklare Zukunft macht demütig und fordert gleichzeitig heraus, über uns hinaus zu wachsen. Hobbyist*in gesucht Also doch lieber der Leidenschaft folgen? Ein Hobby zum Beruf machen, sich mit Dingen beschäftigen, die einen faszinieren oder die man liebt – macht das zufrieden? Nicht unbedingt. Leidenschaft ersetzt Fähigkeit nicht. Nur weil mich etwas fasziniert oder ich es liebe, heißt es nicht, dass ich automatisch gut und fähig bin, darin zu arbeiten. Wenn Projekte nicht gelingen oder hinter den Vorstellungen der Kunden oder Vorgesetzten zurückbleiben, kann das zu Frust führen. Und der Status einer Arbeitsstelle, kann Leidenschaft schnell in Pflichtgefühl verwandeln. Für andere berufen Ist es vielleicht der Sinn einer Arbeit, der Wert für andere, der zufrieden macht? Zu wissen, dass die eigene Tätigkeit Menschen in Not hilft, mag es leichter machen über Schwierigkeiten im Job oder eine schlechte Bezahlung hinwegzusehen. Allerdings hat nicht jeder die Chance in einem sozialen Beruf zu arbeiten. Nicht jeder ist körperlich oder mental dazu in der Lage als Feuerwehrmann Menschen aus brennenden Fahrzeugen zu retten. Das kann auch befreiend sein. Denn wenn ich dazu ungeeignet bin, dann muss ich mich in diese Rolle auch nicht hineinzwängen. Obendrein gibt es Jobs, die ganz einfach erledigt werden müssen, damit das System läuft. Da wären wir dann wieder bei Mike Rowe und seinen „Dirty Jobs“. Aber Sinnhaftigkeit ist nicht nur dort zu finden, wo es ums bloße Überleben geht. Ist es nicht ebenso erfüllend Menschen Schönheit, Genuss oder Gemeinschaft nahezubringen? Was wäre unsere Existenz ohne das? Deswegen behaupte ich, dass (fast) jeder Beruf Sinn macht. Die Bedienung im Café, sorgt dafür, dass Menschen in einer schönen Atmosphäre Gemeinschaft haben oder zur Ruhe kommen können. Wer als Werkzeugmacher Maschinen wartet, sorgt dafür, dass die Produktionskette läuft. An deren Ende wartet ein Produkt, das Menschen erfreut oder ihnen das Leben leichter macht. Die Kunst liegt darin, den Sinn hinter der eigenen Tätigkeit zu finden, den man selbst als erstrebenswert empfindet. Ein verfluchter Acker Bei unserer Suche nach Zufriedenheit im Job dürfen wir jedoch eins nicht vergessen: Wir bebauen einen verfluchten Acker. Nach dem Sündenfall der Menschen in 1. Mose 3, lesen wir, dass Gott den Acker, den der Mensch bewirtschaften, verflucht. Er soll Dornen und Disteln tragen und mit Mühsal soll sich der Mensch davon ernähren. Auch wenn es befremdlich wirkt, kommt hier Gottes Gnade zum Ausdruck. So wie der Mensch gegen Gott rebelliert hat, so rebelliert der Acker gegen den Menschen. Der Mensch wird immer wieder an die selbstverschuldete Trennung zwischen ihm und Gott erinnert. In dieser Demut wendet sich der Mensch hoffentlich wieder seinem Schöpfer zu. Praktisch bedeutet das für uns, dass unser Acker, wie auch immer er aussieht, gegen uns rebellieren wird, Materialien werden kaputt gehen, Rollouts werden verzögert, Deadlines überschritten. Und jedes Mal, wenn uns das ärgert, können wir daran denken, dass Gott sich wünscht, wir suchten unsere Zufriedenheit bei ihm, anstatt auf der Karriereleiter über Leichen zu klettern. Der Sinn des Daseins Vielleicht liegt das Geheimnis der Zufriedenheit weniger in der Tätigkeit selbst, sondern in dem, wie wir Gott und unser Leben selbst wahrnehmen? Im Buch Prediger beschäftigt sich der Schreiber allgemein mit dem Sinn des Daseins und nachdem er sich allen Freuden, Genüssen und Entbehrungen hingegeben hat, stellt er fest: Es ist alles nichtig. Die Summe der Lehren, die er daraus zieht, lautet: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das macht den ganzen Menschen aus. Wenn Zufriedenheit mehr eine Frage der Einstellung ist, bleibt immer noch die Frage nach dem richtigen Job. Mike Rowe rät in einem Podcast schlicht und einfach: Finde etwas, worin du gut bist. Wenn du gut darin bist, dann wirst du einen guten Job machen.

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Zählen Misswahlen als Mission?

Kira Geiss ist Miss Germany 2023. Warum der Schönheitswettbewerb keiner mehr ist und welche Chance darin liegt. Kira, wie kam es dazu, dass du dich bei Miss Germany beworben hast? Ich bin kein Fan von Schönheitswettbewerben. Aber als ich auf Insta die Werbung mit dem Satz „Be part of the new movement“ angezeigt bekam und dazu die damalige Miss Germany, die gar nicht diesem klassischen Frauenbild entspricht, sondern eine richtige Powerfrau mit ausländischen Wurzeln ist, fand ich das spannend. Der Fokus liegt inzwischen darauf, Frauen eine Plattform zu geben, die etwas verändern wollen. Und ich dachte mir, ich möchte ganz dringend etwas verändern! Was möchtest du verändern? Ich möchte durch Jugendarbeit in junge Menschen investieren. Dafür müssen wir Menschen mobilisieren, Geld beschaffen und kompetente Arbeitskräfte einstellen. Ich bin davon überzeugt, wenn Jugendliche einmal bei einer coolen Jugendarbeit waren, dann haben sie keinen Bock mehr, am Handy zu sein. Mir selbst hat Jugendarbeit eine Perspektive gegeben und mich gefördert. Das möchte ich auch für andere junge Menschen. Wie hat Jugendarbeit dein Leben verändert? In meiner Teenie Zeit gehörte ich immer zu den coolen Kids, habe gegen meine Eltern rebelliert, die Schule gewechselt und bin in einen neuen Freundeskreis gekommen. Mit 13 hatte ich mein erstes Blackout, weil ich zu viel Alkohol getrunken hatte. Mit 15 ist mein Freund übergriffig geworden. Das letzte halbe Jahr in der Schule habe ich mich dann abgekapselt. Ich saß nur in meinem Zimmer und habe geweint, weil ich einfach keine Kraft mehr hatte. Wie kamst du aus dieser Situation wieder heraus? Nach meinem Abschluss habe ich mit meinem Freund Schluss gemacht, den Freundeskreis verlassen und eine Ausbildung zur Gestalterin für visuelles Marketing angefangen. Ich hatte das große Privileg, jeden Morgen mit zwei Mädels Bus zu fahren, die mich über ein halbes Jahr lang zu ihrem christlichen Jugendkreis eingeladen haben. Ich fand das immer total cringe. Aber ich habe mich sehr einsam gefühlt. Vor vier Jahren habe ich dann die Einladung zu einer Jugendfreizeit in der Schweiz angenommen, weil ich mich einfach so nach Menschen gesehnt habe. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Dieser Jugendreferent stand da in einer Hütte, hat mich in den Arm genommen, obwohl er mich nicht kannte, und gesagt: Hey Kira, es ist so gut, dass du da bist. Ich freu mich riesig! Wie war das für dich, als dir eine fremde Person mit so viel Liebe begegnet ist? Ich habe das so gebraucht! Ich wurde gesehen und gefördert. Deswegen bin ich danach auch zum Jugendkreis gegangen. Und mit der Zeit hat sich mein Herz für den Glauben geöffnet. Das hat mein ganzes Leben verändert. Der Glaube ist für mich die Quelle meiner Kraft. Wie sind die anderen Kandidatinnen mit dir und deinem Glauben umgegangen? Super, ich habe überhaupt keine negative Kritik bekommen und bin auch nirgendwo angeeckt. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es keinen Sinn macht, jemandem den Glauben aufzuzwingen. Ich versuche nicht zu missionieren, sondern Zeugnis zu geben. Ich werde das immer mit mir tragen und Menschen merken das hoffentlich. War dein Glaube auch Thema in euren Gesprächen? Ja, wir haben viele tiefe Gespräche über die unterschiedlichsten Themen geführt: An was glaube ich ganz konkret? Wie schränkt mich die Bibel ein? Ist es überhaupt eine Einschränkung? Ich konnte ganz offen und unverklemmt sprechen, was die Bibel sagt und weshalb ich so denke. Das finde ich auch wichtig, um das den Menschen zugänglich zu machen. Was macht für dich ein schöner Mensch aus? Der erste Step zur Schönheit ist, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und seine inneren Werte zu kennen. Wenn du mit dir selbst nicht zufrieden bist und dich deswegen nicht schön fühlst, dann musst du was an dir ändern. Das heißt nicht, dass du super viel Sport machen musst. Die innere Einstellung ist das, was zählt! Was würdest du einer Person raten, die mit sich und ihrem Äußeren hadert? Finde dich und deinen Charakter schön, begegne anderen Menschen mit Nächstenliebe und trau dir Sachen zu. Wenn du zufrieden bist, bist du schön. Es ist zweitrangig, was für Klamotten du anziehst, welche Haarfarbe du hast, wie groß du bist, ob du mehrgewichtig bist. Es kommt auf deine Ausstrahlung an. Ich möchte, dass wir wegkommen von den Schönheitsnormen der Gesellschaft. Du möchtest dieses Jahr auch mit dem Aufbau einer deutschlandweiten Jugendplattform beginnen. Wie soll die aussehen? Es soll eine Art Vernetzungsstruktur entstehen, mit der junge Menschen erreicht und mit bestehenden Konzepten in Kontakt gebracht werden können. Wir wollen als erstes in Schulen, auf der Straße und in digitalen Medien auftreten, um mit der Gen Z zu sprechen und herauszufinden, was sie braucht. Das Ziel ist, sowohl eine Plattform im wahren Leben als auch eine im Digitalen aufzubauen. Das ist ein langfristiges Projekt, wofür ich dieses Jahr den Grundstein lege. Ich möchte Menschen für diese Thematik sensibilisieren und im Idealfall auch mit der Politik zusammenarbeiten. Ich will jungen Menschen sagen: Hey, du hast eine Stimme. Nutze sie! Du bist ein Teil der Gesellschaft und deine Meinung zählt. Was braucht die Gen Z deiner Meinung nach am dringendsten? Wir brauchen Freiraum und Struktur. Wir sind die Generation, die blöd gesagt lieber arbeitslos ist, bevor sie eine Arbeit machet, auf die sie keinen Bock hat. Ich muss wissen, was ich zu tun habe und ich brauche den Freiraum und das Vertrauen, dass ich einfach machen darf und nicht in meiner Kapazität und meiner Person hinterfragt werde. Diversität ist das A und O. Kira findest du hier: Instagram @kira.geiss, www.missgermany.com/teilnehmerin/kira-geiss  

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