Verzweiflung

Mit und gegen Gott klagen

Wohin mit dem angestauten Frust und der Verzweiflung? Martin Scott wagt sich an das Kunststück mit und gegen Gott zu klagen. Anhaltspunkte liefern ihm die biblischen Geschichten. Doch der Grat zwischen Selbstmitleid und Eigenverantwortung ist schmal.

Es ist ein Gespräch unter Freunden. So, wie es vermutlich seit Monaten an vielen Orten in Deutschland, Europa und der Welt geführt wird. Ich klage ihm meinen Ärger über die Beschränkungen der Corona-Politik. Ich erzähle von meinem eigenen Leid, berufsbedingt  jongliere ich seit eineinhalb Jahren mit viel Unverlässlichem, die Organisation Wunderwerke, für die ich arbeite, steckt eine Terminabsage nach der nächsten ein.

Reingesteigert

Ich steigere mich rein, in mein Klagen und Jammern. Als emotionaler Mensch, spüre ich die Wut in mir brodeln. Natürlich sind „die da oben“ schuld an den Maßnahmen, die mein persönliches Leben, aber vor allem auch meinen Beruf so sehr einschränken. Irgendwann unterbricht mich mein Freund, der bis dahin geduldig zugehört hatte. Statt „den Menschen in der Politik“ Vorwürfe zu machen, könnte ich doch Gott mein Leid und ihn dafür anklagen, dass er uns das Corona-Virus geschickt hätte. Das Buch Hiob beispielsweise, oder auch manche Psalmen würden uns in der Bibel doch Seite für Seite vormachen, wie das aussehen könnte. Seitdem begleitet mich der Gedanke, ohne, dass er bisher meinen Alltag revolutioniert hätte. Er arbeitet in mir, stößt auf starke Widerstände, aber ich kann ihn auch nicht einfach aussortieren.

Die Bibel als Richtschnur

Was steht zunächst auf der Haben-Seite? Wieso catched mich diese Idee überhaupt? Die Bibel, die mir als Vorbild angeraten wurde, ist mir eine heilige Bücherei. Ich habe lernen müssen, den Wahrheitsanspruch, den ich an die Bibel herantrage und das, was sie über sich selbst aussagt, gut voneinander zu unterscheiden und lerne es noch immer. Andererseits glaube ich der Bibel als Zeugnis der Offenbarungen und Weisungen Gottes, den Kleinen und der ganz Großen in Jesus. Und es ist ein unübersehbarer Fakt, dass sich die Klagen des Menschen und sogar seine Konflikte mit Gott in den verschiedensten Schriften tummeln. Klagen, wie es die Bibel lehrt, gewinnt mich also, weil ich anhand der Bibel meinen Glauben und mein Leben ausrichten möchte.

Gott anklagen

Das Paradebeispiel einer zulässigen Klage vor Gott vermute ich am ehesten in den Psalmen. Deshalb blättere ich dort zuerst rein: „Eile, Gott, mich zu erretten, Herr, mir zu helfen! Es sollen sich schämen und zuschanden werden, die mir nach dem Leben trachten.“ (Psalm 70,2f) Hiob ist die nächste Spur, der ich folge: „Warum gibt Gott den Mühseligen Licht und Leben denen, deren Kehle voller Bitterkeit ist, die eigentlich auf den Tod warten […]?“ (Hiob 3,20f) Die Klagelieder von Jeremia dürfen natürlich auch nicht fehlen: „Wie hat der Herr Israel mit seinem Zorn überschüttet! Er hat die Herrlichkeit Israels vom Himmel auf die Erde geworfen, er hat nicht gedacht an seinen Fußschemel am Tage seines Zorns.“ (Klagelieder 2,1f) Klagen, die vor Gott gebracht werden. Not und Verzweiflung, die ihm gegenüber nicht nur benannt, sondern ihm auch zur Last gelegt werden – er, der Hauptverantwortliche, der nichts tut und das Negative gestattet oder aktiv bewirkt hat.

Folgt man diesen biblischen Vorbildern hieße das, Gott nicht nur mein Leid zu klagen, sondern ihn auch dafür verantwortlich zu machen: „Warum hast du mir und uns Corona geschickt? Warum hast du mich in ein solch schwieriges Elternhaus gesteckt? Wieso hast du mir diesen Konflikt beschert? Und wieso hast du zugelassen, dass die Stromrechnung in diesem Jahr so exorbitant hoch wurde?“, vielleicht noch garniert mit dem Vorwurf: „und der blöde Marc, der sich überhaupt nicht für dich interessiert – dem geht’s gut!“ So würde ich jedenfalls insbesondere die Klageverse der Psalmen für mich verstehen.

Was mich hier packt ist zum einen das gut-fromme Folgen eines biblischen Vorbildes. Ich mache in der Zeit, in der ich so bete, nix kaputt, verärgere keinen anderen und entwickele vermutlich keinen zusätzlichen Hass auf irgendwas oder irgendjemanden in der Welt – alles konzentriert sich auf und bei Gott. Zusätzlich hält es mich in der Beziehung mit Gott, in der es dann auch wirklich existenziell wird. Das ist kein vorgefertigtes Tischgebet, sondern da geht es zur Sache –wenn ich so bete, nehme ich Gott ernst. Außerhalb frommer Prägungen und Gewohnheiten, aber innerhalb meines wirklichen Erlebens. Und so, wie ich beispielsweise evangelisch-landeskirchliche Liturgie verstanden habe, ist diese Art zu Beten in ihr als Standard gesetzt, sowohl vor der Predigt, als auch im Fürbitten-Teil.

Spielraum zum Gestalten

Aber genau in dem Moment, indem ich darüber nachdenke, ob der Ratschlag meines Freundes nicht exakt der Game Changer meines geistlichen Lebens sein könnte, meldet sich ein großer Zweifel in mir. Kann das alles so richtig sein? Bin ich nicht für vieles im Leben selbst verantwortlich? Ich bin zwar Geschöpf Gottes, aber ich bin doch nicht in die willkürliche Lotterie eines universalen Schicksals hineingeschmissen worden. Meine Handlungen haben Konsequenzen und ich habe unfassbar viele Möglichkeiten selbst Veränderung zu gestalten, sei es im Tun oder Denken, im Lieben oder in der eigenen Haltung. Ist nicht die Fähigkeit, selbst zu denken, selbst abzuwägen, selbst Entscheidungen herbeizu führen und zu fällen ebenfalls gute Schöpfungsgabe Gottes?

Die besondere Corona-Zeit hat mir auch manch gute Entwicklung in mein Leben getragen. Manche Renovierungsarbeit zu Hause oder beruflichen Entwicklungen wären ohne Corona undenkbar gewesen – weil ich handelte und konstruktiv mit der Situation umging. Mein Elternhaus war hart, aber ich habe überlebt und mir manche Eigenschaft aneignen können, von der ich heute enorm profitiere. An einem Konflikt sind normalerweise zwei Seiten beteiligt, also auch ich, und im Zweifelsfall kann ich zumindest 50 Prozent beisteuern, den Konflikt wieder beizulegen. Und die wirklich exorbitant gestiegene Stromrechnung kann ich noch immer bezahlen – was für ein Glück ich habe, dass ich Verantwortung übernehmen kann!

Ora et labora

Der Zweifel, ob der Ratschlag meines Freundes wirklich ein guter war, hat einen Namen und heißt: Angst. Angst davor, Verantwortung abzugeben.

Wer zwei Alternativen abwägt, neigt am Ende gerne dazu, eine dritte Alternative, die bestenfalls beide Möglichkeiten mitbedenkt, anzusteuern. Eine Art Kompromiss. Auf eine solche Idee bin ich auch schon gekommen, und ich habe sie die Tage auch schon mal für mich notiert. Aus der alten mönchischen Tradition stammt das Motto: „Ora et labora“, zu deutsch: Höre und arbeite, was im Allgemeinen übertragen wird in „Bete und arbeite“. Auf meine Frage bezogen hieße das, irgendwie beides zu tun, oder? Gott mein Leid zu klagen, ihn in der Verantwortung für mögliche Veränderungen zu sehen, ihn hierfür auch zu lobpreisen – das tun die Psalmisten nämlich auch oft – und danach die Augen zu öffnen und mich zu fragen: Was kann ich tun? Welche Entscheidung kann ich fällen? Welche Haltung zu Ereignissen oder Personen kann ich verändern? Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich mich entscheiden werde.

Martin Scott

Martin Scott

arbeitet als Sprecher, Coach, Moderator, Trainer und Berater für die Initiative Wunderwerke und ist Botschafter von Tearfund Deutschland.

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Was Christen erzählen, ist ein paar tausend Jahre her und geht völlig an der Realität vorbei? Für viele Menschen zeichnen sich Jesusnachfolge durch Kreuzzüge und eine ablehnende Haltung gegenüber Homosexuellen aus. Das truestory Leitungsduo Julia Garschagen und Kai Günther wünscht sich, dass stattdessen das Gute an der Guten Nachricht wieder in den Fokus rückt. Unzeitgemäße Moralvorstellungen – dafür sind wir Christen im 21. Jahrhundert bekannt. Das, was wir reden und leben, wird von vielen Menschen als schädlich wahrgenommen. Sie denken, dass es emotional irrelevant, intellektuell minderbemittelt und moralisch fragwürdig ist. Mit anderen Worten: es ist weit entfernt davon, eine gute Nachricht zu sein. Das ist erstmal nichts Neues. Schon Paulus schreibt im 1. Korintherbrief, dass Christus den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit ist (1 Korinther 1,23). Neu ist aber, dass der Inhalt des darauffolgenden Verses nicht mehr zutrifft. Denn auch für viele Christen scheint Christus heute weder „Gotteskraft noch Weisheit“ zu sein. Vielleicht können die meisten für sich persönlich das Gute benennen, aber viele Christen sagen auch: „Es war so lange für mich gut, bis ich angefangen habe, nachzudenken. Oder bis die Erlebnisse mit Gott ausblieben. Oder bis die Lebensrealität nicht mehr von meinem Kinderglauben abgedeckt war.“ Und warum die Botschaft von Jesus auch für andere und für die Gesellschaft gut sein soll, darauf fehlt die Antwort sowieso. Kein Wunder also, dass wir nichts weitersagen von Jesus: Evangelisieren ist unmoralisch; es fehlen Grund und Motivation dafür. Dabei birgt das Evangelium so viel Kraft, Schönheit und Wahrheit! Die Kraft des Evangeliums Vor einigen Wochen hat mich eine 15-Jährige mit einem ehrlichen Statement schockiert: „Ich habe keine Freunde zu unserem Jugendgottesdienst eingeladen. Das, was hier erzählt wird, interessiert die sowieso nicht.“ Das hat gesessen. Es vermittelt, dass das, was wir sagen, irrelevant ist, nicht weiterhilft und nichts verändert. Und natürlich stellen sich Menschen heute im Angesicht der vielen Meinungen und Angebote die Frage: „Was bringt mir das?“ Wenn mir etwas nichts bringt, dann ist es irrelevant. Wenn ich es „nicht fühle“, dann interessiert es mich auch nicht. Wenn es nichts verändert, dann brauche ich es nicht. Unsere Aufgabe ist also ganz klar, in unseren Gemeinden, unseren Veranstaltungen und an uns selbst spürbar und sichtbar zu machen, welchen Unterschied unser Glaube in unserem Leben macht. Dabei hilft, sich sein eigenes Leben anzuschauen und zu überlegen: Was ist da eigentlich anders, weil ich mit Jesus lebe? Was ist „das Gute“ an der Guten Nachricht? Was bringt mir mein Glaube in meinem Leben? Auf welche Fragen meiner Zeit kann ich Antworten geben, weil ich an Gott glaube? Und dann gilt es, weiterzudenken: Was ist daran für meine Freunde „gut“? Warum sollten sie mit Jesus leben? Was würde das bei ihnen bewegen? Wenn wir das geklärt haben, dann können wir die Gute Nachricht teilen. Persönlich, mutig und ehrlich. Persönlich, mutig, ehrlich Die Gute Nachricht ist kein One-fits-all-Ding, das in jedem Leben gleich klingt. Die Wege von Jesus zu uns Menschen sind so unterschiedlich wie wir Menschen selbst. Jesus hat mit Nikodemus anders gesprochen als mit der Frau am Brunnen. Weil unsere Lebenssituation unterschiedlich ist, ist auch „das Gute“ der Guten Nachricht unterschiedlich. Für den einen ist es, dass Jesus ihn von seinen Lebensängsten befreien kann. Für die andere bedeutet es, dass Jesus eine Perspektive hat, die über das Leben auf dieser Welt hinausgeht. Beiden sagt er: Folgt mir nach! Für uns heißt das: Zunächst einmal Klappe halten, zuhören, Fragen stellen und entdecken, wo der Punkt ist, an dem Jesus dem Menschen ins Leben hineinsprechen will. Denn das Leben mit Jesus hat Kraft; er verändert, deckt auf, heilt. 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Apologetik ist Seelsorge des Denkens, sagt der Theologe Matthias Clausen. Argumente können helfen, Stolpersteine auf dem Weg zum Glauben zur Seite zu räumen und Vorurteile zu hinterfragen. Natürlich bewirkt das Zum-Glauben-Kommen nur der Heiligen Geistes. Aber ich erlebe, dass er sogar Argumente verwenden kann. Apologetik bedeutet auch, über die relevanten Fragen unserer Gesellschaft Bescheid zu wissen und darüber sprechen zu können; mit der Kultur der Menschen, ihren Influencern, Denkern und Musikern in Dialog zu treten. Wenn es kein Gespräch mit der Kultur gibt, vertiefen sich die Gräben zwischen der „christlichen“ und der „normalen“ Welt. Viele Menschen haben den Eindruck: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Und so stellt sich die Frage: Wofür brauche ich dann die Christenwelt? Brücken bauen Wir sind Vermittler zwischen den Gedanken, Argumenten und Geschichten „innerhalb“ und „außerhalb“ der Kirche und bringen beide ins Gespräch. 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Neue Heimat

Heimat im Herzen

Die Ordensschwester sieht mich eindringlich an und sagt: „Du hast deine Heimat verloren!“ Ich hatte sie um ein Gespräch gebeten, um einmal alles loszuwerden. Es ist Sommer und der Raum klein und stickig. Sie spricht unbeirrt weiter: „Du hast dich selbst verloren! Du bist nicht in dir zu Hause!“ Am liebsten wäre ich der guten Dame ins Gesicht gesprungen. Stattdessen stehe ich auf, um zu gehen. Schließlich hatte ich sie um ein Gespräch gebeten und nicht um eine absurde Unterstellung. Heimatlos Auf dem Weg zur Tür denke ich an Hengameh. Sie ist meine iranische Freundin. In ihrem Heimatland ist sie zum christlichen Glauben gekommen. Dann musste sie fliehen und alles hinter sich lassen. Sie hat ihre Heimat verloren. Oder Claudia. Ihre Mutter hatte Töchter und Ehemann verlassen, als Claudia sieben war. Drei Jahre später starb ihr Vater an Krebs und sie wuchs bei dem Exmann ihrer leiblichen Mutter auf. Auch sie hatte keine Heimat. Aber ich? Ich soll heimatlos sein? Allerdings: So richtig sagen, was mit mir los ist, kann ich nicht. Ich lasse mich also wieder in den braunen, muffigen Sessel im Zimmer der Ordensschwester fallen und atmete durch. Vielleicht ist doch etwas dran. Vielleicht hat dieses Getriebensein, die Unruhe, die Fragen etwas mit dem Thema „Heimat“ zu tun. Die Heimat, die ich verloren habe, war irgendwie anders. Tiefer. Innendrin. Es ist dieses übermächtige Gefühl, auf dem falschen Weg zu sein. Das Gefühl, dauernd etwas zu verpassen. Das Gefühl, nicht am rechten Platz zu sein. Darum fuhr ich ins Kloster und schrie und heulte. Im Wald. In der Kapelle. Bis ich schließlich in einem muffigen Sessel in diesem viel zu warmen Zimmer landete. Und ich beginne zu glauben, dass die Ordensschwester Recht haben könnte. Heimat ist, mit meiner besten Freundin Tanzen zu gehen „Du bist nicht in dir zu Hause!“ Dieser Satz lässt mir keine Ruhe. Die nächsten Tage und Wochen denke ich nach und frage mich: Falls ich mein Zuhause verloren haben sollte, was um alles in der Welt bedeutete dann „Heimat“? Es gibt wohl keine eindeutige Begriffsbestimmung für das Wort. Mir kommen Bilder, Gerüche, Geräusche, Geschmäcker und vertraute Stimmen in den Kopf. Schon allein das Knarren des Gartentores, die Biegungen an der Straße und der Geruch von reifen Äpfeln erinnern mich an mein Zuhause. Heimat ist der Rhythmus der Stadt. Den Takt geben die Straßenbahn und das Klappern der Rollläden am Abend vor. Heimat ist, mit meinen besten Freunden zum Tanzen zu gehen. Heimat ist, wenn ich mit meinem Mann bei Sonne und Schnee auf einem Gipfel stehe und wir die Skier ans Gipfelkreuz lehnen. Heimat ist die Kollegin, der Kletterpartner und der Vereinskamerad. Heimat ist mehr als nur ein Ort auf der Landkarte. Sie ist Identität, Selbstverständlichkeit, Sprache, Rhythmus, Ritual, Sicherheit, Beziehung, Zugehörigkeit, Wissen, Vertrautheit, Sinnlichkeit, Ruhe und Farbe im Leben. Und genau das alles hatte ich offensichtlich verloren. Ich war zur Heimatlosen geworden. Innendrin. Wo ist „Innendrin“? Immer noch in der kleinen Kammer bei der Ordensschwester will ich wissen: „Was ist das Innendrin – das Herz?“ Mal abgesehen von dem Organ, das Blut durch den Körper pumpt. Was ist das Herz in der anderen, der weiteren Hinsicht? Wie kann man dort die Heimat verlieren? Sie wiegt ihren Kopf hin und her: „Dein Herz ist die Tiefe deines Wesens. Wir leben aus dieser Tiefe. Was dein Herz prägt, das prägt dich. Wie du mit deinem Herzen umgehst, entscheidet über alles andere: dein Handeln, Denken, Fühlen und Wollen. Dein Herz hat Einfluss auf deine Seele und sogar auf deinen Körper.“ Das Herz ist also der „geistliche Kern“, der Mittelpunkt. Was in unserem Herzen ist, das hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wer wir sind und was aus uns wird. Die weisen hebräischen Denker sehen im Herz den Sitz der Gefühle, das Wohnzimmer der Vernunft und das Schlafzimmer des Wünschens und Wollens. Wie es um mein Herz bestellt ist, prägt alles an mir: Identität, Charakter, Persönlichkeit. Mein Herz bin im tiefsten Wesen ich selbst. Der Gedanke, dass ich die Heimat in meinem eigenen Herzen verloren habe, trifft mich jetzt umso härter. Ich war zu einem Flüchtling geworden. Zu einem Herzensflüchtling. Die Sehnsucht der Herzensflüchtlinge Wie findet man zurück in seine Heimat? Wie findet man eine neue Herzensbleibe? Wo fängt man so eine Reise an? Nehmen wir mal an, dass diese Reise etwas mit Gott zu tun hat. Wo hat der eigentlich seine Heimat? Fromm ist schnell gesagt: „Dort, wo man ihn einlädt.“ Schon. Aber wenn ich mir die biblischen Geschichten anschaue, dann erscheint es mir manchmal so, als ob Gott selbst heimatlos wäre. Ist Gott ein Flüchtling? Das vielleicht nicht gerade. Aber ist nicht auch er auf der Suche nach einem Zuhause? Ist er angekommen? Wo hat er Heimat gefunden? Treibt ihn nicht auch diese gewaltige Sehnsucht, die ihn unruhig macht und ihn bewegt? Ein heimatloser Gott? Am Anfang bewegt sich der Geist Gottes auf dem Wasser. Es ist finster, leer und wüst – und einsam (1. Mose 1,1-2). Gott schafft sich auf der Welt Heimat. Für sich. Und für Menschen. Gottes Heimatsuche ist untrennbar mit der Suche des Menschen verbunden. Er ist ein Gott, der in Bewegung ist. Ein Nomadengott. Ein Wandergott. Ein Gott, der zwischen Himmel und Erde auf einer Leiter klettert (1.Mose 28). Während seiner Zeit auf der Erde hat er weder ein Kopfkissen noch einen festen Platz zum Schlafen (Lukas 9,58). Es ist der Gott, der in seine eigene Heimat kommt und dort weder erkannt noch aufgenommen wird (Johannes 1,11). Der stirbt für die Sehnsucht, ein Zuhause bei den Menschen zu haben. Er ist der heimatlose Gott. Der an unbequeme Orte kommt (1. Mose 28,10-22). Gott schreibt Geschichte mit einem Wandervolk. Er erinnert Abraham an das Große: „Ich bin es, der bei dir ist! Bei mir ist Heimat! Bei aller Einsamkeit: Ich bin dein Zuhause.“ Deshalb wandert er mit. Mit dem Flüchtling Abraham. Seinen Enkeln. Und seinen Ururururenkeln und deren Kindern. Irgendwann auf der großen Flucht heraus aus Ägypten beginnt das Volk der zwölf Stämme eine Wohnung für Gott zu bauen (2. Mose 40). Er soll ein sichtbares Zuhause bei ihnen haben. Und Gott selbst gibt die Bauanleitung. In einem tragbaren, auf- und abbaubaren Zelt will er wohnen! Die Völker um die Nomaden herum haben Tempel, Standbilder und große Heiligtümer. Der heimatlose Gott JHWH hingegen wohnt im Zelt! Seine Heimat ist beweglich. „Die Herrlichkeit des HERRN erfüllte die Wohnung“ (2. Mose 40,34). Durch die großen Storys der Bibel zieht sich die Geschichte des heimatlosen Gottes, der den Menschen nachzieht: 2. Samuel 7,11ff, 1.Könige 8,12ff; Hesekiel 1. Er sehnt sich nach Heimat bei den Menschen. Das Zuhause Gottes Wo wird die Sehnsucht des heimatlosen Gottes gestillt? Wo kennt er sich aus? Wo ist das Wohnzimmer Gottes? Klar, uns fällt sofort der Himmel ein: golden, prunkvoll, erhaben. Und weit weg. Aber: Kurz bevor Jesus ermordet wird, verspricht er seinen Gefährten: „Ich will euch nicht als Heimatlose zurücklassen. Ich komme wieder zurück“ (Johannes 14,18). Er sagt: „Ich und der Vater werden Wohnung nehmen in euch“ (Johannes 14,23b). Die Wahrheit ist einfach, weise und tief: Gott hat unser Herz dafür gemacht, eine Wohnung zu sein. Unsere Herzen wurden dafür geschaffen, Gottes Heimat auf dieser Erde zu sein. Der heimatlose Gott findet in uns sein Zuhause. (Apostelgeschichte 17,27-28). Und trotzdem ist uns das oft nicht bewusst. Paulus beschreibt es so: „Diese Botschaft war in der Vergangenheit über viele Jahrhunderte und viele Generationen hinweg wie ein Geheimnis verborgen; jetzt aber wurde es denen enthüllt, die zu ihm gehören. Und das ist das Geheimnis: Christus lebt in euch! Darin liegt eure Hoffnung: Ihr werdet an seiner Herrlichkeit teilhaben“ (Kolosser 1,26-27). Es erfordert ein Umdenken: Denn, wenn ich einfach nur „an Gott“ glaube, dann könnte er ja außerhalb von mir wohnen. Dann ist er ein „Gegenüber“. Dann versuche ich zu ihm zu kommen und irgendwie zu ihm durchzudringen. Genau das haben Menschen Jahrtausende lang gemacht – und es ist ihnen mal mehr, mal weniger gelungen. Der Clou ist, dass er in uns wohnt. Er ist mir nicht nur nahe, sondern er ist das Tiefste in mir. Er prägt und bestimmt mein Wesen. Er ist mir näher, als ich es mir selbst bin. Das verspricht Jesus (Johannes 20,21) und er betet sogar dafür (Johannes 17,11). Dort, in deinem Herzen, begegnest du dem heimatlosen Gott. Da hat er Heimat gefunden. Er sehnt sich danach, dass du in deinem Herzen genauso zu Hause bist wie er. Es ist der Ort, an dem ich selbstverständlich mit Gott Gemeinschaft haben kann. Weil er dort wohnt. Mein Herz ist das Vaterland Gottes. Oft stelle ich mir ganz bildlich vor, dass ich mit Gott in meinem Herz spazieren gehe. So wie Adam und Eva das im Garten des Anfangs auch getan haben. Es geht letztlich darum, dass ich einen Weg zu mir selbst finde. Weil dort mein Innerstes Zuhause ist. Und Gott dort auf mich wartet. Darin liegt der tiefe Sinn dieser alten Worte: „Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir“ (Galater 2,20).

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Weg mit dem Kreuz?

Mal ehrlich, ein Folterinstrument als Firmenlogo? Nicht so sexy. Ist das Kreuz ein überholtes Symbol? „Jesus Christus, für deine Sünden gestorben!“, irgendwie ein ganz schöner Downer, dieser Satz. Da fühle ich mich gleich so falsch, wie ein G63 AMG auf einer Fridays for Future-Demo. Trotzdem gibt es für mich Gründe, warum ich am Kreuz als Symbol festhalte: 1. Nicht allein in der Krise Ganz ehrlich, es gibt kein Leben, in dem man nicht auch durch fette Krisen geht. Nach mittlerweile acht Jahren als Seelsorger wird mir immer deutlicher, dass es ein Leben ohne Leid nicht gibt. Deshalb ist für mich klar: Wenn es das Kreuz im Christentum nicht gäbe, würde ich nicht an Gott glauben! Denn was bringt mir ein Gott, der nicht weiß, wie sich menschliches Leid anfühlt? Der nicht am eigenen Leib erfahren hat, was es heißt zu leiden, mit dem Tod zu kämpfen, zu Unrecht misshandelt zu werden, zu heulen, wütend zu sein und sich einfach nur schlecht zu fühlen? Stattdessen lässt mich ein Gott, der das kennt, nicht einsam zurück, wenn ich ihm von meinem Leid erzähle. 2. Ich mache Fehler Manche von ihnen sind klein und haben kaum Konsequenzen, manche aber schaden mir, meinen Mitmenschen und meiner Umgebung. Für alle meine Fehler bin ich selbst verantwortlich. Gerade deshalb belasten sie mich. Ich kann vor meinen Fehlern fliehen, andere für sie um Verzeihung bitten, sie leugnen, schönreden, akzeptieren, bestreiten oder anderen in die Schuhe schieben, aber eines kann ich nicht - mich von ihnen trennen. Meine Fehler gehören zu mir, deswegen gehöre ich auch immer ein Stückweit meinen Fehlern. Frei kann ich so nicht werden, es sei denn jemand trennt mich von ihnen und schafft es, mich ohne sie zu sehen. Das geht aber nur mit Gottes Hilfe, besser gesagt mit der Hilfe Jesu am Kreuz – hier spricht er mir Vergebung zu. Die Konsequenzen meiner Fehler erlebe ich trotzdem, Jesus hilft mir aber dabei, dass sie in der Vergangenheit bleiben und ich mich nicht für immer von ihnen foltern lassen muss. Das Kreuz wird so zum Zeichen meiner Freiheit. 3. Andere machen Fehler So hart es klingt, aber von klein auf passieren Menschen Fehler mit mir. Meine Eltern, Lehrer, Freunde, Partner, alle sind Menschen und keine Götter, daher verbocken sie es immer wieder. Diese Fehler gehen nicht spurlos an mir vorbei. Zusätzlich zu meinen eigenen Fehlern muss ich (wie jeder Mensch) auch die Konsequenzen der Fehler tragen, die andere Menschen an mir begangen haben. Im Idealfall lerne ich, damit zu leben, manchmal werde ich dadurch sogar widerstandsfähiger, manchmal werde ich aber auch tief in meiner Lebensgestaltung beeinträchtigt. Ein Leben zu führen, das nicht durch die Fehler anderer gezeichnet ist, ist unmöglich. Frei kann ich so nicht werden, es sei denn, jemand trennt mich von den Fehlern, die andere an mir begangen haben, und hilft mir dabei, mich ohne sie zu sehen. Das schaffe ich nur mit Gottes Hilfe, besser gesagt mit der Hilfe Gottes am Kreuz, denn hier trägt Jesus die Wunden, die andere mir zugefügt haben, für mich, damit diese Wunden mich und meinen Charakter nicht mehr kennzeichnen müssen. Das Kreuz wird so zum Zeichen meiner Heilung. Nicolai Opifanti arbeitet als Pfarrer in Stuttgart. Auf seinem Instagram-Kanal @pfarrerausplastik teilt er Gedanken aus seinem Alltag als Hauptamtlicher

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