Es ist ein Gespräch unter Freunden. So, wie es vermutlich seit Monaten an vielen Orten in Deutschland, Europa und der Welt geführt wird. Ich klage ihm meinen Ärger über die Beschränkungen der Corona-Politik. Ich erzähle von meinem eigenen Leid. Berufsbedingt jongliere ich seit eineinhalb Jahren mit viel Unverlässlichem. Die Organisation Wunderwerke, für die ich arbeite, steckt eine Terminabsage nach der nächsten ein.
Reingesteigert
Ich steigere mich rein, in mein Klagen und Jammern. Als emotionaler Mensch, spüre ich die Wut in mir brodeln. Natürlich sind „die da oben“ schuld an den Maßnahmen, die mein persönliches Leben, aber vor allem auch meinen Beruf so sehr einschränken. Irgendwann unterbricht mich mein Freund, der bis dahin geduldig zugehört hatte. Statt „den Menschen in der Politik“ Vorwürfe zu machen, könnte ich doch Gott mein Leid und ihn dafür anklagen, dass er uns das Corona-Virus geschickt hätte. Das Buch Hiob beispielsweise, oder auch manche Psalmen würden uns in der Bibel doch Seite für Seite vormachen, wie das aussehen könnte. Seitdem begleitet mich der Gedanke, ohne, dass er bisher meinen Alltag revolutioniert hätte. Er arbeitet in mir, stößt auf starke Widerstände, aber ich kann ihn auch nicht einfach aussortieren.
Die Bibel als Richtschnur
Was steht zunächst auf der Haben-Seite? Wieso catched mich diese Idee überhaupt? Die Bibel, die mir als Vorbild angeraten wurde, ist mir eine heilige Bücherei. Ich habe lernen müssen, den Wahrheitsanspruch, den ich an die Bibel herantrage und das, was sie über sich selbst aussagt, gut voneinander zu unterscheiden und lerne es noch immer. Andererseits glaube ich der Bibel als Zeugnis der Offenbarungen und Weisungen Gottes, den Kleinen und der ganz Großen in Jesus. Und es ist ein unübersehbarer Fakt, dass sich die Klagen des Menschen und sogar seine Konflikte mit Gott in den verschiedensten Schriften tummeln. Klagen, wie es die Bibel lehrt, gewinnt mich also, weil ich anhand der Bibel meinen Glauben und mein Leben ausrichten möchte.
Gott anklagen
Das Paradebeispiel einer zulässigen Klage vor Gott vermute ich am ehesten in den Psalmen. Deshalb blättere ich dort zuerst rein: „Eile, Gott, mich zu erretten, Herr, mir zu helfen! Es sollen sich schämen und zuschanden werden, die mir nach dem Leben trachten.“ (Psalm 70,2f) Hiob ist die nächste Spur, der ich folge: „Warum gibt Gott den Mühseligen Licht und Leben denen, deren Kehle voller Bitterkeit ist, die eigentlich auf den Tod warten […]?“ (Hiob 3,20f) Die Klagelieder von Jeremia dürfen natürlich auch nicht fehlen: „Wie hat der Herr Israel mit seinem Zorn überschüttet! Er hat die Herrlichkeit Israels vom Himmel auf die Erde geworfen, er hat nicht gedacht an seinen Fußschemel am Tage seines Zorns.“ (Klagelieder 2,1f) Klagen, die vor Gott gebracht werden. Not und Verzweiflung, die ihm gegenüber nicht nur benannt, sondern ihm auch zur Last gelegt werden – er, der Hauptverantwortliche, der nichts tut und das Negative gestattet oder aktiv bewirkt hat.
Beten macht nichts kaputt
Folgt man diesen biblischen Vorbildern hieße das, Gott nicht nur mein Leid zu klagen, sondern ihn auch dafür verantwortlich zu machen: „Warum hast du mir und uns Corona geschickt? Warum hast du mich in ein solch schwieriges Elternhaus gesteckt? Wieso hast du mir diesen Konflikt beschert? Und wieso hast du zugelassen, dass die Stromrechnung in diesem Jahr so exorbitant hoch wurde?“, vielleicht noch garniert mit dem Vorwurf: „und der blöde Marc, der sich überhaupt nicht für dich interessiert – dem geht’s gut!“ So würde ich jedenfalls insbesondere die Klageverse der Psalmen für mich verstehen.
Was mich hier packt, ist zum einen das gut-fromme Folgen eines biblischen Vorbildes. Ich mache in der Zeit, in der ich so bete, nix kaputt, verärgere keinen anderen und entwickele vermutlich keinen zusätzlichen Hass auf irgendwas oder irgendjemanden in der Welt. Alles konzentriert sich auf und bei Gott. Zusätzlich hält es mich in der Beziehung mit Gott, in der es dann auch wirklich existenziell wird. Das ist kein vorgefertigtes Tischgebet, sondern da geht es zur Sache – wenn ich so bete, nehme ich Gott ernst. Außerhalb frommer Prägungen und Gewohnheiten, aber innerhalb meines wirklichen Erlebens. Und so, wie ich beispielsweise evangelisch-landeskirchliche Liturgie verstanden habe, ist diese Art zu Beten in ihr als Standard gesetzt, sowohl vor der Predigt, als auch im Fürbitten-Teil.
Spielraum zum Gestalten
Aber genau in dem Moment, indem ich darüber nachdenke, ob der Ratschlag meines Freundes nicht exakt der Game Changer meines geistlichen Lebens sein könnte, meldet sich ein großer Zweifel in mir. Kann das alles so richtig sein? Bin ich nicht für vieles im Leben selbst verantwortlich? Ich bin zwar Geschöpf Gottes, aber ich bin doch nicht in die willkürliche Lotterie eines universalen Schicksals hineingeschmissen worden. Meine Handlungen haben Konsequenzen und ich habe unfassbar viele Möglichkeiten selbst Veränderung zu gestalten. Sei es im Tun oder Denken, im Lieben oder in der eigenen Haltung. Ist nicht die Fähigkeit, selbst zu denken, selbst abzuwägen, selbst Entscheidungen herbeizuführen und zu -fällen ebenfalls gute Schöpfungsgabe Gottes?
Die besondere Corona-Zeit hat mir auch manch gute Entwicklung in mein Leben getragen. Manche Renovierungsarbeit zu Hause oder beruflichen Entwicklungen wären ohne Corona undenkbar gewesen – weil ich handelte und konstruktiv mit der Situation umging. Mein Elternhaus war hart. Aber, ich habe überlebt und mir manche Eigenschaft aneignen können, von der ich heute enorm profitiere. An einem Konflikt sind normalerweise zwei Seiten beteiligt, also auch ich. Im Zweifelsfall kann ich zumindest 50 Prozent beisteuern, den Konflikt wieder beizulegen. Und die wirklich exorbitant gestiegene Stromrechnung kann ich noch immer bezahlen. Was für ein Glück ich habe, dass ich Verantwortung übernehmen kann!
Ora et labora
Der Zweifel, ob der Ratschlag meines Freundes wirklich ein guter war, hat einen Namen und heißt: Angst. Angst davor, Verantwortung abzugeben.
Wer zwei Alternativen abwägt, neigt am Ende gerne dazu, eine dritte Alternative, die bestenfalls beide Möglichkeiten mitbedenkt, anzusteuern. Eine Art Kompromiss. Auf eine solche Idee bin ich auch schon gekommen, und ich habe sie die Tage auch schon mal für mich notiert. Aus der alten mönchischen Tradition stammt das Motto: „Ora et labora“, zu deutsch: Höre und arbeite, was im Allgemeinen übertragen wird in „Bete und arbeite“. Auf meine Frage bezogen hieße das, irgendwie beides zu tun, oder? Gott mein Leid zu klagen, ihn in der Verantwortung für mögliche Veränderungen zu sehen, ihn hierfür auch zu lobpreisen – das tun die Psalmisten nämlich auch oft – und danach die Augen zu öffnen und mich zu fragen: Was kann ich tun? Welche Entscheidung kann ich fällen? Welche Haltung zu Ereignissen oder Personen kann ich verändern? Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich mich entscheiden werde.