Eine ganz bestimmte Bibel-Persönlichkeit ist Profi der Utopie. Er träumte von einer Realität, die ertsmal noch keine Wirklichkeit war. Zugegebenermaßen, seine Träume waren echt kryptisch und vielleicht etwas seltsam, aber was danach passierte, hatte weitreichende Folgen. Es geht um Josef. Josef, der zweitjüngste von zwölf Brüdern und der Liebling seiner Eltern. Ich stelle mir ihn, ehrlich gesagt, etwas anstrengend vor: Sein Vater beschenkt ihn und bevorzugt ihn vor den anderen Kindern. Josef tritt hochnäsig und arrogant auf und nutzt seine Stellung in der Familie für sich selbst.
Und dann kommen da auch noch seine Träume ins Spiel: Er träumt davon, dass seine ganze Familie sich vor ihm verbeugt. Das erzählt Josef dann erstmal munter seiner ganzen Familie – was nicht unbedingt auf Freude und Dankbarkeit stößt. Selbst Josefs Eltern fragen sich langsam, ob er nicht endgültig abgehoben ist und werden wütend.
Wovon träumst du?
Und du? Wovon träumst du eigentlich? Damit meine ich nicht unbedingt die Träume, die dich nachts heimsuchen und so bildhaft sind wie die von Josef. Und nein, es folgt kein Traumdeuter-Seminar in fünf Schritten. Ich meine die Träume, die du für diese Welt hast, für deine Uni oder Schule, für deine Gemeinde, deine Familie, deine Freundesgruppe, deine WG. Die Momente, in denen du denkst: Das müsste doch eigentlich anders laufen! Das kann der Druck auf der Brust sein, wenn du die Nachrichten schaust. Oder der Frust, wenn schon wieder unnötig viel Plastik im Mülleimer landet. Vielleicht gibt es aber auch eine Gruppe in deiner Gemeinde, die dir fehlt oder der Umgang in deiner WG könnte etwas liebevoller sein.
Wenn wir als Kinder Gottes Missstände wahrnehmen, oder Bedürfnisse, die nicht gedeckt sind, wenn wir zündende Ideen haben oder den inneren Drang, sich endlich für eine bestimmte Sache einzusetzen – dann bin ich mir ganz sicher, dass da Gott mit im Spiel ist. Ich glaube, dass wir mündige Menschen sind und nicht jede Gefühlsregung direkt auf Gott zurückführen können oder müssen: nicht alles, was ich sehe, fühle oder denke kommt von Gott. Aber wenn wir ernst nehmen, dass wir Kinder Gottes sind, dann können wir auf unsere Intuition und unseren Instinkt hören. Wir dürfen uns selbst etwas zutrauen! Vielleicht nehmen wir hier tatsächlich etwas wahr, was andere nicht sehen, was aber Jesus auch aufgefallen wäre. Etwas, das Gott auch schmerzt und wo er mitleidet.
Josefs Karriere ist Nebensache
Als ich die Josefgeschichte erneut gelesen habe, ist mir etwas zum ersten Mal aufgefallen. Bisher habe ich die Träume Josefs vor allem darauf bezogen, dass er das etwas zu selbstbewusste Lieblingskind ist, vor dem tatsächlich am Ende seine Brüder in Ägypten niederknien. Ich habe seine Träume immer so verstanden, dass er ja recht behält und Gott tatsächlich etwas Besonderes mit ihm vorhat, und dass er am Ende Macht, Einfluss und Reichtum hat.
Das alles ist nicht unbedingt falsch, aber darum geht es nicht. In der Josefgeschichte geht es nicht nur um Josef und seine steile Karriere zum Mann, der nur unter dem Pharao steht. Wenn wir einmal rauszoomen sehen wir: Es geht hier um eine Hungersnot, die sieben Jahre lang andauert und unter der Tausende Menschen verschiedener Länder leiden – unter anderem Josefs Familie. Es geht hier darum, dass Gott Menschen durch diese Hungersnot hinwegrettet. Das tut er, indem er auch den Pharao Träume haben lässt, die auf die Hungersnot hindeuten. Josef deutet diese Träume, wird als Verwalter eingesetzt, um Ägypten auf diese Hungersnot vorzubereiten.
Das ist ein unglaublicher Perspektivwechsel – es geht gar nicht um Josef. Zumindest nicht nur. Es geht um seine Familie und viele Menschen drumherum. Seine Träume bereiten ihn darauf vor, was Gott mit ihm vorhat, und begleiten ihn auf seinem harten Weg dorthin. Ja, am Ende gehen die Träume in Erfüllung, und seine Familie kniet tatsächlich in Ägypten vor ihm. Aber inzwischen geht es auch Josef nicht mehr darum, der beste Sohn Jakobs zu sein oder es seinen Geschwistern heimzuzahlen. Es geht um die Rettung und eine Familie, die am Ende wieder zusammenfindet.
Träume nicht nur für dich
Wenn du einmal rauszoomst, um was geht es in deinen Träumen? Die meisten Ideen und Wünsche, die wir haben, betreffen nicht nur uns selbst, sondern mindestens die Menschen um uns herum. Was würde sich für dich und für andere verändern, wenn deine Utopie in Erfüllung gehen würde? Vielleicht geht es darin ja weniger um dich als um andere.
Faszinierend finde ich, dass Gott beides im Blick hat: Die Rettung der vielen Menschen in der Hungersnot, aber auch Josef als Einzelnen. Er sieht und kennt ihn, er begleitet ihn auf seinem steinigen Weg nach Ägypten, durch die Sklaverei und das Gefängnis bis hin an den Hof des Pharaos. Gott gibt Josef die Zeit und die Möglichkeit, zu wachsen, sich weiterzuentwickeln, dazuzulernen und sich neu auszurichten. Ich tue mich schwer mit dem Gedanken, dass Gott Josef all das für ein wenig character development antut.
Anhand der Geschichte sehen wir aber, dass Josef am Ende ein anderer Mensch als zu Beginn ist und, dass das heilsam für ihn und seine Familie ist. Josef lernt auf dem Weg vom Lieblingssohn zum zweiten Pharao, sich nicht aufzuspielen. Er lernt, seine Träume, Ideen und Visionen so zu kommunizieren, dass andere damit etwas anfangen können, anstatt ihn in die Sklaverei verkaufen zu wollen. Er wird ein stärkerer Charakter, der um seine Begabungen und Begrenzungen weiß. Genau das befähigt ihn, seine Träume in die Tat umzusetzen und Gutes zu tun.
Gott gebraucht deine Träume
Gott ist nicht abhängig von Josef, von dir oder von mir. Er hätte die Hungersnot auch anders verhindern oder eindämmen können. Aber das hat er nicht. Er geht diesen Weg mit Josef, mit dir und mit mir. Josef hat eine einzigartige Perspektive auf die Welt, er kann gut planen und organisieren und gut kommunizieren. Er sieht Möglichkeiten, wo andere verzweifeln. Gott gebraucht genau diese Perspektive, diesen Menschen mit all seinen Begabungen und Einfällen!
Und genau deshalb geht’s auch nicht ohne dich oder mich. Weil deine Augen diese Welt ein wenig anders sehen. Weil deine Ohren hinhören. Weil du Ideen entwickeln kannst, die anderen verwehrt sind. Weil du deine Utopie anpackst und Wirklichkeit werden lässt.