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Warum Selbstliebe auch ein biblisches Prinzip ist

Holy Selflove

Das Reich Gottes verträgt eine ganze Menge Ego
Bei aller Nächstenliebe: Die Sorge um sich selbst nimmt einem so schnell keiner ab und ein Helferkomplex ist keine christliche Pflicht.

In einem der Krisenmomente meines Lebens saß ich auf dem Fußboden einer Klosterzelle und starrte auf eine Liste. Seit Monaten hatte ich kaum die Kraft, mich auf den Beinen zu halten. Ich fühlte mich abgekämpft, aufgerieben und ausgeschöpft – vor allem aber menschenmüde. Und dabei wollte ich doch Vorbild sein auf dem Feld der Nächstenliebe. Als müsse ich mir was beweisen, hatte ich die Liste erstellt: eine Aufzählung der Ehrenämter in der Ausbildungsstätte, dann die Mitarbeit in Kinder- und Jugendarbeit der Gemeinde, das immeroffene Ohr im Freundeskreis, das Projekt, für das ich die Woche davor noch zugesagt hatte.

Ich bin es Gott wert

Ich dachte, mit all dem hätte ich moralisch Sinn und Zweck meiner Existenz erfüllt, meine Gaben optimal ausgenutzt, mein Bestes für Gott und die Welt gegeben. Und jetzt saß ich da auf dem Boden der Tatsachen und spürte: Meine Lebensgleichung war fehlkalkuliert. Nicht austariert. Alles in mir schrie: „Und wann komm ich?“

Wann komm ich? Das ist die Rückseite der Frage: Wieviel Ego verträgt das Reich Gottes? Jesu Reden lesen sich wie ein Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, in der jeder sich selbst der Nächste ist, wie eine Provokation an den Zeitgeist, der Selbstverwirklichung zum Pflichtprogramm erklärt. Jesus lebt vor, was es heißt, die Not des anderen zu sehen und tatkräftig anzupacken. Er hat echtes, tiefes Interesse an denen, für die sich andere fremdschämen. Deshalb teilt er, was er hat, und gibt auf, was er haben könnte. Er lindert Not und Armut.

Mein Wert als begrenzter Mensch

In all dem gibt er Menschen ihr Ansehen und ihre Würde zurück. Wer von Jesus berührt und geheilt wurde, will die Welt verändern, weil er selbst verändert wurde. Der kann seine Mitmenschen mit anderen Augen sehen, weil Jesus ihm einen neuen Blick auf sich selbst gegeben hat: Ein Wissen um die Ansehnlichkeit, die eigene Würde und den eigenen Wert als begrenzter Mensch.

"Insofern glaube ich, dass Selbstliebe die rechte Hand der Nächstenliebe ist."

Das legt sich wie heilsamer Balsam auf die Schürfwunden meiner Seele: Ich bin es wert, gut behandelt zu werden. Auch, wenn ich Gottes Gnade vielleicht nicht verdient habe, zeigt mir Jesus, dass sie auch für mich gilt. Und als ein Wesen von Würde, das die ganze Achtung und die Liebe Gottes wert ist, darf ich mich auch selbst so behandeln. Ich bin Selbstliebe wert. Insofern glaube ich, dass Selbstliebe die rechte Hand der Nächstenliebe ist. Und: Das Reich Gottes verträgt eine ganze Menge an gesundem Ego – braucht es sogar.

Ein Helferkomplex ist keine christliche Pflicht

Meine Auszeit im Kloster hat mich gelehrt: Es ist heilsam und so gar nicht egoistisch, sich selbst kennenzulernen. Wer es wagt, die Strickmuster seiner eigenen Biografie aufzudröseln, versteht auf einmal so manche Verstrickung seines Lebens. Mein Fazit: Ein Helferkomplex ist keine christliche Pflicht. Bei mir entdeckte ich die Angst, nicht gesehen zu werden. Mich zurückzunehmen war oft keine ehrliche Demut, sondern ein Selbstschutzmechanismus. Da waren Glaubenssätze in meiner Familie, die mir zum „inneren Kritiker“ wurden.

Diese Untertöne meiner Persönlichkeit wahrzunehmen und Doppelmotivationen ins Gesicht zu sehen, war und bleibt desillusionierend, aber ungemein befreiend. Manche ungesunden Lebensmuster sind immer noch (und vielleicht noch auf lange) Baustellen meines Egos, an die ich mit viel Gnade, Geduld und Gebet herangehe.

"Nein" ist eine lebensbejahende Antwort

Ein Puzzleteil des „Nein“-Sagens ist das Gespür für die eigenen Grenzen. Unser Körper hat die Angewohnheit, uns handfeste Warnsignale zu geben, wenn wir unseren Kräftehaushalt überziehen. Ein Schuss vorn Bug ist dabei keine indirekte Aufforderung, jetzt das Manöver in selbstquälerischer Manier erst recht zu starten. Manchmal wäre es schon viel früher dran, sich auch nach außen hin abzugrenzen.

Auch ein Christ darf guten Gewissens „Nein“ sagen in der Gemeinde, im Freundeskreis, auf der Arbeit. Manchmal ist ein „Nein“ auf eine Bitte hin eine sehr lebensbejahende Antwort, die eigentlich auch im Sinne des anderen sein sollte. Bernhard von Clairvaux schrieb: „Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, schone dich.“

Selbstliebe inspiriert auch andere

Je mehr ich begreife, was mir liegt und wofür Gott mein Herz schlagen lässt, desto klarer kann ich mich abgrenzen und Selbstliebe praktizieren. Mit diesen Grenzen gewinnt mein Leben an Profil. Es tut gut zu wissen, dass ich nicht alle freien Plätze im Reich Gottes besetzen muss. Gott wird mit dem arbeiten, was ich geben kann – und wenn es nur zwei Brote und eine Handvoll Fische sind.

Das Kloster ist für mich ein bisschen zum Inbegriff der gesunden Selbstliebe geworden. Wie der Fisch das Wasser, brauche ich diese Orte und Momente, an denen ich alleine bin und auftanken kann. Es hat mich verblüfft zu lesen, wie oft sich Jesus in die Einsamkeit zurückzog – ganz eigennützig. Ein Mönch gab mir den Ratschlag: Eine Stunde am Tag, ein Tag in der Woche, eine Woche im Jahr – nur für dich selbst. Das, was ich an stiller Zeit aufwende, hilft mir, mich neu zu kalibrieren. Vor mir echt zu bleiben. Meinen Körper zu spüren. Meinen Platz zu finden. Gott stillt etwas in mir. So manch schöpferischer Prozess kommt auch erst mit der Ruhe zur Vollendung.

Ein Leben, das Menschen ihren Wert spiegelt

Christen – eigentlich sollte ich schreiben „Menschen“ –, die sich selbst liebevoll und achtsam Freund sind, sind keine Egoisten, sondern mit die größten Inspirationsquellen im Reich Gottes. Und außerdem wirklich angenehme, selbstlose Zeitgenossen. In ihrer Gegenwart kann ich durchatmen. Auf einmal beginne ich, mir im Spiegel selbst zuzulächeln. Ich traue mich, vor ihnen schwach zu sein und kann es genießen, mir selbst etwas zu gönnen. So beginne ich, meine Grenzen ebenfalls zu würdigen.

Ich wünsche mir, dass unsere Gemeinden fassadenbefreite Zufluchtsorte sind, an denen wir den Nächsten lieben lernen und uns selbst. Und wo wir gleichzeitig unsere „still under construction“-Schilder nicht verstecken müssen. Wo wir ehrlich sein dürfen vor und über uns selbst mit all unserer Überforderung und all unseren ungestillten Sehnsüchten. Ich wünsche mir ein profiltiefes, leidenschaftliches Leben, das Menschen ihren Wert spiegelt – auch, indem ich an mich denke.

Dorina Seitz

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