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Fasten muss mehr sein als ein ritualisierter Leistungsnachweis

Wozu Fasten?

Was Verzicht verändern kann
Mal für ein paar Wochen auf Fleisch verzichten, quasi als ritualisierter Leistungsnachweis, weil Gott so viel Opfer wohl noch wert sein dürfte – das kann doch nicht alles sein, was den Wert des Fastens ausmacht. Dorina seitz über das Fasten als Reise zu sich selbst, dem anderen und Gott.

Eine Null-Diät ist, wenn ich förmlich höre, wie mein Gehirn nach Glukose lechzt und der Anblick von Schokolade die Schweißdrüsen übernatürlich anregt. Ich kann da mitreden. Nur, habe ich gemerkt, bringe ich mein Gewicht eher ins Gleichgewicht, wenn ich dem Essen die richtige Gewichtung gebe … Am Aschermittwoch ruft die Kirche zu vierzig Tagen Verzicht auf – und damit startet sie sicher keinen religiös maskierten Back-up-Plan, um einem fragwürdigen Körperideal hinterherzurennen. Was also verbirgt sich hinter der Tradition des Fastens? Eines sei vorweggenommen: Es geht um’s Ganze.

Ich begebe mich auf Spurensuche in meinem Multi-Kulti-Umfeld. Der Couscous brennt sich in den Topf, während ich meinen WG-Kollegen lausche. Am Ramadan wird einen knappen Monat lang von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder gegessen noch getrunken. „Abends sitzen wir zusammen und die ganze Familie kommt“, sagt mein muslimischer Mitbewohner aus Jordanien. „Im Ramadan sind Menschen anders. Menschlicher.“

Und: „Du musst gut sein, damit dein Fasten von Gott akzeptiert wird.“ Meine griechisch-orthodoxe Freundin von nebenan isst mittwochs und freitags weder Fleisch noch Ei- oder Milchprodukte. Ich habe mir vor Ostern meist die Schokolade verkniffen. Die Glückshormone, die mir dadurch gefehlt haben, kamen über Umwege zurück: Selbstbeherrschung fühlt sich ziemlich gut an, und mein Zahnarzt freut sich sicher mit. Könnte es trotzdem sein, dass mir etwas entgangen ist?

Ein Ritual mit reichlich Tradition

Aus christlich-biblischer Perspektive unterliegt das Fasten keinen Regeln. Im alten Israel fastete man als Gemeinschaft oder als Einzelner in Trauerzeiten und Krisenmomenten. An Gedenktagen spürte man so körperlich dem traumatischen Schock bestimmter Ereignisse der eigenen Geschichte nach. Für alle sichtbar diente es als Zeichen der Buße und Demut oder der Reinigung vor einer bevorstehenden Gottesbegegnung. Einige Älteste der frühen christlichen Gemeinde verbanden vor manchen personellen Entscheidungen ihr Gebet mit dem Verzicht auf Essen.

Jesus hält dazu an, beim Fasten nicht die eigene Frömmigkeit zur Schau zu stellen, (nachzulesen in Matthäus 6, 16-18). Obwohl sich aus den biblischen Schriften kein Imperativ ableiten lässt, hat sich in der Kirche nach den ersten Jahrhunderten eine vorösterliche Fastentradition entwickelt, die in verschiedenen Konfessionen noch unterschiedliche Ausprägungen hat. Sollte man diese Tradition so ganz postmodern über Bord werfen? Ich schlage vor: Mal über die Reling beugen, nachhaken und vielleicht einen Schatz an Land ziehen.

Freiheit durch Verzicht

Fest steht: Wer zu Teilen auf etwas verzichtet, das ihm sonst als Nahrungsgrundlage dient oder für sein Leben zumindest von Bedeutung ist, hungert nach mehr. Er gibt sich mit dem scheinbar Vollkommenen nicht zufrieden. Wenn wir eine Zeit lang ohne Fleisch oder Feingebäck, ohne Feierabendbier oder Insta leben, schränken wir uns in unserer Handlungsfreiheit bewusst ein. Wir nehmen uns ein Stück Freiheit, um sie an anderer Stelle zu bekommen. Jeder Verzicht schafft Kapazität. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, worauf wir verzichten, sondern vielmehr die Frage: Was stattdessen?

"Wenn etwas wegfällt, stellt sich die Frage nach dem, was bleibt"

Fasten heißt ursprünglich „festhalten“ oder „fest werden“. Dabei lassen wir beim Verzichten erst einmal los: schlechte Gewohnheiten, ein „zu viel“ an Konsum, eine kritische Konstante unseres Alltags. Und wir stellen fest: Es geht auch ohne. Wenn etwas wegfällt, stellt sich die Frage nach dem, was bleibt: Was ist es denn, das ich als Grundfeste meines Lebens sehe? Was hält mich in Mangelzeiten? Verzicht schafft Nüchternheit.

Und darin liegt die Kraft, die Tür zur eigenen Seele zu öffnen und ihr endlich, endlich mal zuzuhören. Ein Fastentagebuch hilft, aus wirren inneren Dialogen einen heilsamen roten Faden zu ziehen.

Fasten beginnt im Kopf

„Auch die Zunge muss fasten“, meint meine Freundin aus Marokko. Nicht als Seitenhieb auf mein verkohltes Mittagessen, sondern im Ernst. „Wer lästert, der fastet nicht.“ Ich husche gedanklich durch ein imaginäres Sprachprotokoll der letzten Stunde. Doch, ich finde etwas, worauf ich (und damit auch die anderen) das nächste Mal gerne verzichten könnten. Wie wäre das: in der Fastenzeit zur Abwechslung mal Worte weglassen? Vergebung aussprechen statt nur zu fluchen, Komplimente verschenken statt unsachlich zu kritisieren, aufbauen statt abzulästern, stark machen statt zu schimpfen? Ich lasse mich herausfordern.

Die evangelische Kirche lädt seit ein paar Jahren zu der Aktion „7 Wochen ohne“ ein. Dieses Mal mit der Idee, 40 Tage lang auf Gedanken zu verzichten, die das Potenzial haben, mich wie Säure anzufressen. Wenn ich anfange, mich innerlich klein zu machen und wertlos zu reden, dann darf ich ein energisches „Stopp!“ setzen. Und stattdessen ein inneres Selfie schießen und an Gottes und anderer Menschen „Gefällt mir“ denken.

Eine neue Spur zum anderen

Fastentraditionen bringen seit langer Zeit Menschen zusammen. Weil ihr Suchen nach Gott, ihr gemeinsames Ausharren oder kollektives Anliegen sie eint.

Was wäre damit: eine Fastengruppe gründen mit Austausch und Ansporn? Nicht als gepflegter Jammerkreis, sondern als Gleichgesinnte, die in derselben Goldmiene buddeln. Auch das gemeinsame Gebet kann dabei zu etwas Ganzheitlichem werden: weil es eben mehr ist als das akustische Abtragen verbrauchter Wortphrasen. Vielleicht meinen das die Psalmdichter, wenn sie schreiben: „Mein ganzer Mensch verlangt nach dir.“ (Psalm 63,2)

"Die bessere Frage ist, was mich und andere wirklich satt macht und wonach zu hungern es sich lohnt"

Fasten lässt nämlich nicht nur die Seele, sondern auch den Körper sprechen. Überhaupt zu wissen, wie sich Hunger anfühlt, weckt Mitgefühl. Das macht sensibel für die, die keine Wahl haben. Auf eine horizontale Sprengkraft des Fastens wies vor fast 3000 Jahren auch Jesaja hin, Kritiker von leeren Ritualen und teilnahmslosen Herzen: Wenn ich mich selbst quäle, ist keinem geholfen, sagt er. Fasten soll vielmehr ein Verzicht auf den sozialen Verzicht sein. Ich frage meist, welche Art von Enthaltsamkeit mir den größten Nutzen verschafft. Die bessere Frage ist, was mich und andere wirklich satt macht und wonach zu hungern es sich lohnt: Menschen zur Freiheit zu verhelfen und mit Bedürftigen zu teilen. (vgl. Jesaja 58,1-12) Vielleicht könnte mein Verzicht jemandem zum Vorteil werden?

Die Chance auf einen Neuanfang

Nach jüdischer Tradition gingen Fastende manchmal sprichwörtlich in „Sack und Asche“, als äußeres Zeichen einer inneren Umkehr. Auch dafür ist die Fastenzeit eine Einladung: mich aus der Routine reißen zu lassen, um an den kritischen Stellen meines Lebens das Ruder herumzureißen. Dort Vergebung zu suchen, wo ich etwas oder jemanden zerrissen habe. Trauern und loslassen, wo es Risswunden in mir selbst gibt. Die Fastenzeit endet mit dem Osterfest und der Auferstehung als zeichengebender Wirklichkeit: Ich darf ganz neu anfangen, weil am Ende das Leben steht, nicht der Tod.

Ist es da nicht etwas zu kurz gegriffen, einfach nur den Schokoladenhasen im Aldi-Regal stehen zu lassen und sich über potenziell eingesparte Kalorien zu freuen?

Dorina Seitz

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