Tristan Horx

Optimistisch in die Zukunft

Trotz der schwierigen Weltenlage blickt Tristan Horx, Trend- und Zukunftsforscher positiv auf das Bevorstehende

Aktuell sieht man die Klamotten der 90er Jahre wieder auf den Straßen. Haben Sie als Zukunftsforscher diesen Trend vorhergesehen?

In bin zwar kein Modeexperte, aber mit den 90ern ist es ein ewiger Kreislauf. Ich glaube, es ist jetzt schon das fünfte Mal, dass die wieder „in“ sind. Grundsätzlich ist es aber ganz normal, dass Modeerscheinungen immer wiederkommen. So gesehen, habe ich das vorausgesagt.

Haben die Älteren dann recht, wenn sie sagen, dass es keine neuen Trends mehr gibt und stattdessen das Alte nur revivalt wird? So nach dem Motto, Omas Haferschleim heißt jetzt einfach Overnight Oats?

Es ist eine Illusion zu glauben, dass in der Zukunft immer alles neu und anders sein muss. Viele Sachen existieren noch, weil sie einen Wert hatten. Meistens werden sie in Richtung Zukunft leicht abgewandelt. Ich garantiere, dass das, was die Großeltern als Haferschleim kennen, anders schmeckt als das, was man heutzutage als Porridge verkauft bekommt. Zukunft entsteht immer aus der Rekombination von Altem und Neuem. Ganz oft wollen wir aber nicht wahrhaben, dass das Alte auch etwas damit zu tun hat. Das ist eine falsche Erwartungshaltung der Zukunft gegenüber.

Dann betrachten Sie als Zukunftsforscher also auch die Vergangenheit?

Ja, maßgeblich sogar. Anders als bei Trends, die ich analysiere und die man als Gegenwartsphänomene problemlos belegen kann, wird die Zukunft anhand von Mustern bestimmt. Dabei hilft die Vergangenheit enorm, denn irgendwo her muss ich die Muster ja bekommen. Als Zukunftsforscher muss man sich mit der Vergangenheit ein bisschen auskennen, mit der Gegenwart sowieso und mit der Zukunft eigentlich am wenigsten. Das ist das Spannende.

Je nachdem mit wem man spricht, könnte man aktuell das Gefühl bekommen der Weltuntergang ist nah. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft?

Medial steht der Weltuntergang schon seit ich klein bin vor der Tür. Damals war die Angst, dass das Erdöl knapp wird, dann wurde gesagt, dass der nächste Weltkrieg ausbricht. Dann gab es die Sorge, dass wir alle vereinsamen, weil es so viele Single-Haushalte gab. Wir haben irgendwie schon alles durchgemacht. Wenn man jung ist, wirkt es wahrscheinlich echt so, als würde jeden Tag die Welt untergehen. Vor dem Krieg in der Ukraine ist die Welt wegen einer Pandemie untergegangen. Da sind wir dann wieder beim Thema Vergangenheit – vielleicht muss man sich aber vergegenwärtigen, dass 99 Prozent der Menschheitsgeschichte richtig beschissen waren. Gerade wir im Westen leben nach wie vor zum besten Zeitpunkt jemals. Und auch wenn sich das jetzt wie eine Trendwende anfühlt, in der Realität ist das nicht so. Wir sind alle zurecht sehr betroffen von diesem Krieg, aber man darf nicht vergessen, dass es an anderen Orten auf diesem Planeten seit eh und je so ist. Vielleicht bekommen wir gerade einfach eine Realitätsklatsche. Wir im Westen haben die Tendenz die Gegenwart aufzublähen, weil uns die Zukunft als gemeinsame Vision fehlt.

Welche Entwicklungen könnte die aktuelle Weltlage denn in Zukunft lostreten?

Reregionalisierung als Gegentrend zur Globalisierung wird ein Thema werden. Damit meine ich keine Nationalismen, dafür sind die jüngeren Generationen zu informiert aufgewachsene. Auf die Nation greift man nämlich nur dann zurück, wenn einem alle anderen Identitätsmöglichkeiten ausgehen, quasi als kleinsten gemeinsamen Nenner. Deshalb glaube ich nicht, dass der Nationalismus wiederkommt, aber gerade mit Blick auf die Wirtschaft, wird das Regionale an Bedeutung zurückgewinnen. Dann haben wir das ganze Thema Nachhaltigkeit. Aktuell merken wir, dass wir hier wenig Erdöl und Gas haben. Wir haben aber Sonne und Wind. Dieser Trend hat gerade einen deutlichen Boost bekommen. Und ein weiterer Punkt, der aktuell ein bisschen in den Hintergrund geraten ist, ist die neue Arbeitswelt. Man darf nicht vergessen, was sich da Unglaubliches getan hat. Aktuell wirkt die Frage nach Homeoffice ein bisschen kleinteilig, wenn ein Krieg ums Erdöl brennt. Aber das ist etwas, das uns im direkten Leben alle betrifft.

Sie schreiben in ihrem Buch, dass Fridays for Future gewonnen hat. Was ist damit gemeint?

Es gibt kein ernstzunehmendes Unternehmen mehr, dass sich nicht mit dem Thema „Nachhaltigkeit“ beschäftigt. Vor einigen Jahren gab es noch genug Firmen, die dachten, sie können sich wegduckten unter dem nervigen Trend. Mittlerweile setzten sich sogar Unternehmen wie Shell ernsthaft damit auseinander. Vor nicht allzu langer Zeit drehte sich der Diskurs darum, ob das mit dem Klimawandel überhaupt stimmt. Das zweifelt heute keiner mehr an und die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie wir es anpacken. Deshalb haben die Ökos gewonnen - und mit Ökos meine ich die Wissenschaft. Es ist ein guter Anfang, dass wir da größtenteils eine gemeinsame Realität haben.

Mit der Klimabewegung ist auch ein großer Generationenkonflikt sichtbar geworden. Ist der mittlerweile gelöst?

Die Boomer waren die Bösen, was aber vergessen wurde ist, dass sie was Frauenrechte, Rechte für Homosexuelle und auch Ökologie angeht eigentlich sehr viel bewegt haben – auch wenn sie jetzt im Nachhinein ein bisschen spießig wirken. Aber die junge Generation wird auch irgendwann spießig erscheinen. So ist gesellschaftlicher Fortschritt und das ist völlig in Ordnung. Wenn man die Vergangenheit und die Lebensrealität der unterschiedlichen Generationen versteht, kann das auch zur Vereinigung führen. Gerade merken wir doch, wie all diese Konflikte belanglos werden. Vielleicht lässt uns das zusammenrücken.

Was bedeutet das für das Thema „Individualismus“ – bleibt der Trend so dominant, oder bewegen wir uns durch die vielen Krisen wieder näher aufeinander zu? 

Es ist ja kein Entweder-oder. Entweder wir sind alle rechte Nazis oder wir sind alle woke Individualisten, die ihre Shakes trinken und glutenintolerant sind. Die produktivsten Gesellschaften sind die, die verstehen, dass die Formel lautet: Gemeinsam verscheiden sein. Es geht um gewisse Grundwerte, auf die man sich einigen muss. Und dann darf man so individuell sein, wie man will. Wenn man eine völlig gleiche Gesellschaft hat, dann braucht man nur einen politischen Virus, um alle umzuhauen. Das passiert in einer heterogenen Gesellschaft nicht. Dafür gibt es halt mehr Streit und mehr Konflikte. Und wenn man mit diesem Spannungsfeld nicht umgehen kann, lässt man sich schnell von dem Denken locken: „Es wäre doch einfacher, alle wären wie ich“. Aber das ist nicht zukunftsfähig, weil es sehr unproduktiv ist.

Julia Spliethoff

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"Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt"

In ihren Flitterwochen macht Melanie zum ersten Mal Bekanntschaft mit der Panik. Doch fast schlimmer als die Angstattacken selbst wird das Misstrauen ihrem eigenen Körper gegenüber. Panikattacken? Die haben doch vor allem hysterische Teenie-Mädels, die sich in etwas reinsteigern. Aber erwachsene, selbstbewusste Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen? Die sind von sowas nicht betroffen – dachte ich. Dann kamen unsere Flitterwochen. Nach der Hochzeit und allem, was da auch emotional passiert, wenn man sich von der eigenen Familie abkoppelt und mit seinem Mann eine neue Family gründet, waren meine Emotionen sowieso schon außer Rand und Band. Und während wir in den Flitterwochen eine unglaublich schöne Zeit hatten, gab es einen Abend, an dem ich aus dem Nichts plötzlich das Gefühl hatte, ohnmächtig zu werden. Keine Luft mehr zu bekommen. So schnell wie möglich wieder ins Hotel zurückkehren zu müssen. Alles wurde eng. Mein Herz raste so schnell, dass ich mir sicher war, ich erleide gerade einen Herzinfarkt. Was war denn das? Ich war völlig überfordert mit mir, meinem Körper, und hatte große Angst. Woher kam das? Wie geht das wieder weg? Was, wenn das für immer bleibt? Habe ich den Prosecco im Hotel nicht vertragen? Ist das eine allergische Reaktion? Was, wenn ich jetzt ersticke? Die darauffolgende Nacht war furchtbar. Mein Körper hatte immer wieder Adrenalin-Schübe, die mich nicht einschlafen ließen und ich war erfüllt von Angst. Was ich erst viel später erkannte: das war sie – meine erste Panikattacke. Die Angst blieb Dieses Gefühl kam in den Flitterwochen immer wieder. Aber gut, es war ja auch vieles neu. Das wird zuhause im Alltag bestimmt besser, dachte ich. Aber der Alltag kam und dieses komische Gefühl und vor allem die Angst vor dem Gefühl blieb. Für uns als frisches Ehepaar war das ganz schön herausfordernd. Simon konnte oft nur schwer nachvollziehen und vor allem nachfühlen, was da in meinem Kopf und Körper abging. Da er meine sicherste Bezugsperson ist, kamen schlimme Panikattacken in seiner Gegenwart nie vor. Das machte es noch schwieriger, ihn in diese neuen Umstände miteinzubeziehen. Wir redeten viel darüber. War das gut? Oder kontraproduktiv? Bekam die Panik dadurch zu viel Raum in unserer Ehe? Unserem Leben? Meinem Kopf? Ich wusste es nicht. Wir forschten nach den Ursachen: Was hatte sich seit der Hochzeit geändert? Gut, ich hatte angefangen, hormonell zu verhüten. Das setzte ich direkt ab. Meinem Körper tat das gut, aber die Panik blieb. „Hilfe!“ Die nächste und bis dato schlimmste Panikattacke hatte ich einen Monat nach der Rückkehr aus den Flitterwochen im Auto. Ich war auf dem Weg zu meiner Coaching-Ausbildung, von München nach Nürnberg. Die Sonne schien, die Autobahn war nicht zu voll, die Straße trocken. Ich fuhr allein und freute mich aufs Wochenende. Aus dem Nichts spürte ich, wie Adrenalin durch meinen Magen raste, mein Herz überschlug sich, meine Hände wurden schwitzig und mein Sichtfeld schien immer kleiner zu werden. Ich befürchtete, dass ich das Lenkrad nicht mehr halten könnte und in die nächste Leitplanke rasen würde. Oder schlimmer noch: in ein anderes Auto! Ich fuhr panisch von der Autobahn ab, rief meine beste Freundin an, und kam schließlich völlig fertig und verschwitzt an. Aber ich hatte es geschafft. Bis heute, die schlimmste Autofahrt meines Lebens. So konnte es nicht weitergehen! Also startete ich eine Zeit später die beschwerliche Suche nach einem Psychotherapieplatz. Ich wurde zu Kennenlerngesprächen eingeladen – direkt mit dem Hinweis, dass die Wartezeit auf einen Platz 6-12 Monate betrage. Durch eine Bekannte kam ich über Umwege dann im März innerhalb kürzester Zeit zu einem Platz bei einem Therapeuten. Mit angezogener Handbremse Und da befinde ich mich bis heute. Seit sieben Monaten in verhaltenstherapeutischer Behandlung. Ich wünschte, ich könnte schreiben, dass ich die Angst und die Panik easy überwunden habe. Im Freundeskreis wurde mir immer wieder zugesichert, dass eine Angststörung zu den am leichtesten und erfolgreichsten behandelbaren psychischen Störungen zählt. Was lieb gemeint war, führte dazu, dass ich mir zu Beginn richtig Druck machte, das mit der Panik so schnell es geht unter die Füße zu kriegen. Dem ist nicht so. Es gibt viele gute Tage und Wochen, aber auch wieder Krisentage, die sich nach heftigem Versagen anfühlen. Noch fast schlimmer als die Panikattacken selbst finde ich diese Angst vor der Angst. Das lässt mich so viele Momente im Alltag mit angezogener Handbremse erleben. Mich meinen Körper unter ständiger Beobachtung haben, um nachzufühlen, ob da bald was kommt. Ist die Angst noch da? Was, wenn sie jetzt ausbricht? In Zeiten, in denen ich abgelenkt bin, geht das meistens gut. Aber sobald ich zur Ruhe komme und Zeit habe, mich mit mir selbst zu beschäftigen, kann das, was alle Achtsamkeits-Gurus als den nicesten Shit erachten, schnell mein kleines Angst-Gefängnis werden. Stark in der Schwäche Alles in allem ist mithilfe der Therapie, Simons Unterstützung und a whole lot of Jesus wirklich schon eine extreme Besserung eingetreten. Mittlerweile versuche ich der Angst mit mehr Gelassenheit zu begegnen und mich runterzuregulieren, wenn die Nervosität hochcreept, indem ich mir sage: Wenn es mir in 10 Minuten immer noch so geht, dann mache ich mir nochmal mehr Gedanken. Es hilft mir außerdem, die Angst nicht panisch wegschieben zu wollen, sondern mehr wie einen Teil von mir zu sehen und zu wissen, dass selbst, wenn ich in dem Moment eine Panikattacke bekomme, das gar nicht so schlimm ist und mir nichts passieren wird. Das nimmt dem Ganzen die Macht und die „Gefährlichkeit“. Auch, wenn die Panikattacken mich oft unwohl fühlen lassen, habe ich der Angst eine Sache nie erlaubt: mich von dem abzuhalten, was ich gerne tun möchte: das Haus verlassen, ins Auto steigen, in Restaurants oder auf die Bühne gehen, auch wenn ich kurz vorher in meinem Stuhl sitze und denke, ich erleide mit dem ersten Schritt direkt einen Herzinfarkt. Denn sobald die Angst Raum bekommt, vergrößert sie sich stetig und lauert auf einmal hinter allem, was vorher noch ganz normal machbar schien. Und das möchte ich niemals zulassen. Panik und Psychotherapie fühlen sich für mich noch viel zu oft nach (Charakter-)Schwäche an. Nach etwas, dass man besser nicht mit anderen teilen sollte, weil man so jeden Respekt, jedes Ansehen, jedes Vertrauen in die Fähigkeiten und Stärke einer Person verliert. So roh und unfassbar verletzlich. Aber genau darin liegt auch irgendwie die Schönheit. Ich strecke meine Hand aus und sage: da, schau mal. Das ist mein verletzlichster Kern. Ich bin Mensch. Und du bist es auch. Lass uns gemeinsam unsere Stärke in unserer Verletzlichkeit feiern. Uns in Herausforderungen gegenseitig stützen. Und dem leisen Flüstern des Heiligen Geistes glauben, der liebevoll verspricht, dass er in unseren Schwächen stark ist. Melli Klepper hat ihrer Panik, auf Therapeuten-Empfehlung hin, einen Namen gegeben. Sie heißt: alte Berta. Sonst liebt und feiert sie das Leben mit ihrem Mann in München, schreibt und podcastet gerne bei houlimouli.de, leitet den Bereich „Junge Erwachsene“ bei WDL und arbeitet als Life- & Business Coach.

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Neue Heimat

Heimat im Herzen

Die Ordensschwester sieht mich eindringlich an und sagt: „Du hast deine Heimat verloren!“ Ich hatte sie um ein Gespräch gebeten, um einmal alles loszuwerden. Es ist Sommer und der Raum klein und stickig. Sie spricht unbeirrt weiter: „Du hast dich selbst verloren! Du bist nicht in dir zu Hause!“ Am liebsten wäre ich der guten Dame ins Gesicht gesprungen. Stattdessen stehe ich auf, um zu gehen. Schließlich hatte ich sie um ein Gespräch gebeten und nicht um eine absurde Unterstellung. Heimatlos Auf dem Weg zur Tür denke ich an Hengameh. Sie ist meine iranische Freundin. In ihrem Heimatland ist sie zum christlichen Glauben gekommen. Dann musste sie fliehen und alles hinter sich lassen. Sie hat ihre Heimat verloren. Oder Claudia. Ihre Mutter hatte Töchter und Ehemann verlassen, als Claudia sieben war. Drei Jahre später starb ihr Vater an Krebs und sie wuchs bei dem Exmann ihrer leiblichen Mutter auf. Auch sie hatte keine Heimat. Aber ich? Ich soll heimatlos sein? Allerdings: So richtig sagen, was mit mir los ist, kann ich nicht. Ich lasse mich also wieder in den braunen, muffigen Sessel im Zimmer der Ordensschwester fallen und atmete durch. Vielleicht ist doch etwas dran. Vielleicht hat dieses Getriebensein, die Unruhe, die Fragen etwas mit dem Thema „Heimat“ zu tun. Die Heimat, die ich verloren habe, war irgendwie anders. Tiefer. Innendrin. Es ist dieses übermächtige Gefühl, auf dem falschen Weg zu sein. Das Gefühl, dauernd etwas zu verpassen. Das Gefühl, nicht am rechten Platz zu sein. Darum fuhr ich ins Kloster und schrie und heulte. Im Wald. In der Kapelle. Bis ich schließlich in einem muffigen Sessel in diesem viel zu warmen Zimmer landete. Und ich beginne zu glauben, dass die Ordensschwester Recht haben könnte. Heimat ist, mit meiner besten Freundin Tanzen zu gehen „Du bist nicht in dir zu Hause!“ Dieser Satz lässt mir keine Ruhe. Die nächsten Tage und Wochen denke ich nach und frage mich: Falls ich mein Zuhause verloren haben sollte, was um alles in der Welt bedeutete dann „Heimat“? Es gibt wohl keine eindeutige Begriffsbestimmung für das Wort. Mir kommen Bilder, Gerüche, Geräusche, Geschmäcker und vertraute Stimmen in den Kopf. Schon allein das Knarren des Gartentores, die Biegungen an der Straße und der Geruch von reifen Äpfeln erinnern mich an mein Zuhause. Heimat ist der Rhythmus der Stadt. Den Takt geben die Straßenbahn und das Klappern der Rollläden am Abend vor. Heimat ist, mit meinen besten Freunden zum Tanzen zu gehen. Heimat ist, wenn ich mit meinem Mann bei Sonne und Schnee auf einem Gipfel stehe und wir die Skier ans Gipfelkreuz lehnen. Heimat ist die Kollegin, der Kletterpartner und der Vereinskamerad. Heimat ist mehr als nur ein Ort auf der Landkarte. Sie ist Identität, Selbstverständlichkeit, Sprache, Rhythmus, Ritual, Sicherheit, Beziehung, Zugehörigkeit, Wissen, Vertrautheit, Sinnlichkeit, Ruhe und Farbe im Leben. Und genau das alles hatte ich offensichtlich verloren. Ich war zur Heimatlosen geworden. Innendrin. Wo ist „Innendrin“? Immer noch in der kleinen Kammer bei der Ordensschwester will ich wissen: „Was ist das Innendrin – das Herz?“ Mal abgesehen von dem Organ, das Blut durch den Körper pumpt. Was ist das Herz in der anderen, der weiteren Hinsicht? Wie kann man dort die Heimat verlieren? Sie wiegt ihren Kopf hin und her: „Dein Herz ist die Tiefe deines Wesens. Wir leben aus dieser Tiefe. Was dein Herz prägt, das prägt dich. Wie du mit deinem Herzen umgehst, entscheidet über alles andere: dein Handeln, Denken, Fühlen und Wollen. Dein Herz hat Einfluss auf deine Seele und sogar auf deinen Körper.“ Das Herz ist also der „geistliche Kern“, der Mittelpunkt. Was in unserem Herzen ist, das hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wer wir sind und was aus uns wird. Die weisen hebräischen Denker sehen im Herz den Sitz der Gefühle, das Wohnzimmer der Vernunft und das Schlafzimmer des Wünschens und Wollens. Wie es um mein Herz bestellt ist, prägt alles an mir: Identität, Charakter, Persönlichkeit. Mein Herz bin im tiefsten Wesen ich selbst. Der Gedanke, dass ich die Heimat in meinem eigenen Herzen verloren habe, trifft mich jetzt umso härter. Ich war zu einem Flüchtling geworden. Zu einem Herzensflüchtling. Die Sehnsucht der Herzensflüchtlinge Wie findet man zurück in seine Heimat? Wie findet man eine neue Herzensbleibe? Wo fängt man so eine Reise an? Nehmen wir mal an, dass diese Reise etwas mit Gott zu tun hat. Wo hat der eigentlich seine Heimat? Fromm ist schnell gesagt: „Dort, wo man ihn einlädt.“ Schon. Aber wenn ich mir die biblischen Geschichten anschaue, dann erscheint es mir manchmal so, als ob Gott selbst heimatlos wäre. Ist Gott ein Flüchtling? Das vielleicht nicht gerade. Aber ist nicht auch er auf der Suche nach einem Zuhause? Ist er angekommen? Wo hat er Heimat gefunden? Treibt ihn nicht auch diese gewaltige Sehnsucht, die ihn unruhig macht und ihn bewegt? Ein heimatloser Gott? Am Anfang bewegt sich der Geist Gottes auf dem Wasser. Es ist finster, leer und wüst – und einsam (1. Mose 1,1-2). Gott schafft sich auf der Welt Heimat. Für sich. Und für Menschen. Gottes Heimatsuche ist untrennbar mit der Suche des Menschen verbunden. Er ist ein Gott, der in Bewegung ist. Ein Nomadengott. Ein Wandergott. Ein Gott, der zwischen Himmel und Erde auf einer Leiter klettert (1.Mose 28). Während seiner Zeit auf der Erde hat er weder ein Kopfkissen noch einen festen Platz zum Schlafen (Lukas 9,58). Es ist der Gott, der in seine eigene Heimat kommt und dort weder erkannt noch aufgenommen wird (Johannes 1,11). Der stirbt für die Sehnsucht, ein Zuhause bei den Menschen zu haben. Er ist der heimatlose Gott. Der an unbequeme Orte kommt (1. Mose 28,10-22). Gott schreibt Geschichte mit einem Wandervolk. Er erinnert Abraham an das Große: „Ich bin es, der bei dir ist! Bei mir ist Heimat! Bei aller Einsamkeit: Ich bin dein Zuhause.“ Deshalb wandert er mit. Mit dem Flüchtling Abraham. Seinen Enkeln. Und seinen Ururururenkeln und deren Kindern. Irgendwann auf der großen Flucht heraus aus Ägypten beginnt das Volk der zwölf Stämme eine Wohnung für Gott zu bauen (2. Mose 40). Er soll ein sichtbares Zuhause bei ihnen haben. Und Gott selbst gibt die Bauanleitung. In einem tragbaren, auf- und abbaubaren Zelt will er wohnen! Die Völker um die Nomaden herum haben Tempel, Standbilder und große Heiligtümer. Der heimatlose Gott JHWH hingegen wohnt im Zelt! Seine Heimat ist beweglich. „Die Herrlichkeit des HERRN erfüllte die Wohnung“ (2. Mose 40,34). Durch die großen Storys der Bibel zieht sich die Geschichte des heimatlosen Gottes, der den Menschen nachzieht: 2. Samuel 7,11ff, 1.Könige 8,12ff; Hesekiel 1. Er sehnt sich nach Heimat bei den Menschen. Das Zuhause Gottes Wo wird die Sehnsucht des heimatlosen Gottes gestillt? Wo kennt er sich aus? Wo ist das Wohnzimmer Gottes? Klar, uns fällt sofort der Himmel ein: golden, prunkvoll, erhaben. Und weit weg. Aber: Kurz bevor Jesus ermordet wird, verspricht er seinen Gefährten: „Ich will euch nicht als Heimatlose zurücklassen. Ich komme wieder zurück“ (Johannes 14,18). Er sagt: „Ich und der Vater werden Wohnung nehmen in euch“ (Johannes 14,23b). Die Wahrheit ist einfach, weise und tief: Gott hat unser Herz dafür gemacht, eine Wohnung zu sein. Unsere Herzen wurden dafür geschaffen, Gottes Heimat auf dieser Erde zu sein. Der heimatlose Gott findet in uns sein Zuhause. (Apostelgeschichte 17,27-28). Und trotzdem ist uns das oft nicht bewusst. Paulus beschreibt es so: „Diese Botschaft war in der Vergangenheit über viele Jahrhunderte und viele Generationen hinweg wie ein Geheimnis verborgen; jetzt aber wurde es denen enthüllt, die zu ihm gehören. Und das ist das Geheimnis: Christus lebt in euch! Darin liegt eure Hoffnung: Ihr werdet an seiner Herrlichkeit teilhaben“ (Kolosser 1,26-27). Es erfordert ein Umdenken: Denn, wenn ich einfach nur „an Gott“ glaube, dann könnte er ja außerhalb von mir wohnen. Dann ist er ein „Gegenüber“. Dann versuche ich zu ihm zu kommen und irgendwie zu ihm durchzudringen. Genau das haben Menschen Jahrtausende lang gemacht – und es ist ihnen mal mehr, mal weniger gelungen. Der Clou ist, dass er in uns wohnt. Er ist mir nicht nur nahe, sondern er ist das Tiefste in mir. Er prägt und bestimmt mein Wesen. Er ist mir näher, als ich es mir selbst bin. Das verspricht Jesus (Johannes 20,21) und er betet sogar dafür (Johannes 17,11). Dort, in deinem Herzen, begegnest du dem heimatlosen Gott. Da hat er Heimat gefunden. Er sehnt sich danach, dass du in deinem Herzen genauso zu Hause bist wie er. Es ist der Ort, an dem ich selbstverständlich mit Gott Gemeinschaft haben kann. Weil er dort wohnt. Mein Herz ist das Vaterland Gottes. Oft stelle ich mir ganz bildlich vor, dass ich mit Gott in meinem Herz spazieren gehe. So wie Adam und Eva das im Garten des Anfangs auch getan haben. Es geht letztlich darum, dass ich einen Weg zu mir selbst finde. Weil dort mein Innerstes Zuhause ist. Und Gott dort auf mich wartet. Darin liegt der tiefe Sinn dieser alten Worte: „Nicht mehr ich bin es, der lebt, nein, Christus lebt in mir“ (Galater 2,20).

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Alex O'Bros Hamburg Real Life

Keine Angst vor dem Sterben

Vor einem Jahr beginnt die Geschichte, die Alex von den O‘Bros eine „unfassbar krasse Linie Gottes“ nennt. Das YouTube-Duo The Real Life Guys kommentiert ein Musikvideo der O‘Bros. Alex ist neugierig und schreibt sie an. Philipp Mickenbecker antwortet. Schnell verlegen sie die Konversation zu WhatsApp. Per Sprachmemo erzählt Philipp: „Der Krebs ist wieder da.“ Schon damals ist Alex von Philipps Leichtigkeit beeindruckt. Irgendwann fragt er: „Wenn du sterben solltest, dürfen wir dann einen Song über dich schreiben?“ Kurz vor dem Tod: Grünes Licht Ein Jahr später lebt Philipp nicht mehr. Alex und ich treffen uns am Spreeufer in Berlin. Seine Augen sind müde, der Himmel ist grau. Ein Touristenschiff fährt vorbei. Letzte Nacht war er mit den Jungs aus seiner WG unterwegs. Das hatten sie sich schon lange vorgenommen, doch die Zeit war immer zu knapp. Denn in den letzten Wochen hat Alex nur aus dem Koffer gelebt. Vor zwei Monaten veröffentlichte er mit seinem Bruder den Song „Real Life“ – kurz nach dem Tod von Philipp. Der Track ging durch die Decke: 1,5 Millionen Aufrufe auf Spotify, 1,7 Millionen Klicks bei YouTube, Platz eins der deutschen iTunes Charts. „Kennst du noch diese Bravo-Hits CD?“, fragt Alex. „Da kommt der Song auch drauf!“ Und Philipp kann die erste Version des Songs "Real Life" sogar noch hören. Zwei Tage vor seinem Tod besucht Alex ihn im Krankenhaus. Die O’Bros waren gerade im Studio gewesen und hatten den Impuls, dass es jetzt Zeit war, den Song zu schreiben. Damals wussten sie noch nicht, ob sie ihn wirklich veröffentlichen würden. Als Alex das Krankenhauszimmer betritt, liegt in der Luft, dass es das letzte Treffen mit Philipp sein könnte. Alex stellt sich an sein Bett und spielt den Song von seinem Handy ab: „Aber wer hält mich, wenn alles zerbricht, wenn alle Träume sterben und mein Körper mich zerfrisst? Wenn am Ende alles anders kommt als gedacht, dann geb’ ich trotzdem nie auf. Du bringst mich durch die Nacht. Danke, Vater.” Philipps Reaktion Als das Lied zu Ende ist, lächelt Philipp. Er ist schwach und sagt: „Ja, damit kann ich mich auf jeden Fall gut identifizieren.“ Erleichterung. Ab dem Moment ist für Alex klar: Er und sein Bruder werden den Song fertigstellen und herausbringen. „Das war das, was ich wissen wollte. Ich habe persönlich grünes Licht von Philipp bekommen. Ich brauchte für mich eine Bestätigung. Ich wollte keinen Song auf dem Rücken des Todes meines Freundes schreiben, der dann im schlimmsten Fall noch erfolgreich wird.” Hoffnungsvoll Gut, dass Philipp noch vor seinem Tod voll hinter dem Song stand, denn erfolgreich ist „Real Life“ geworden; genau wie er es sich für Alex und Maxi gewünscht hätte. „Philipp hat mehr an uns geglaubt als wir selbst.“, erzählt Alex. Er sagte immer: „Das was ihr macht, muss in die Charts, muss mehr gehört werden.‘” Jedes Mal, wenn sie sich gesehen haben, hat er gebetet, dass die Songs ins Radio kommen. „Was der für einen Glauben hatte.“, sagt Alex bewundernd. „Philipp ging es um Reichweite. Wie schaffe ich es, mit der Message nicht nur ein oder zwei Leute zu erreichen, sondern mindestens ein oder zwei Millionen? Er hat ganz anders gedacht als viele Christen, die ich kenne.“ Oft hätten wir eine falsche Demut, meint Alex. Man dürfe nicht träumen, einen Song zu schreiben, der in die Charts kommt. Aber Philipp hat Alex und seinen Bruder zu mehr inspiriert: „Wir wollen nicht nur Christen in ihrem Glauben entertainen. Wir fragen uns: Wie können wir Menschen erreichen, die echt keine Hoffnung haben, die mit Tod, mit Krankheit, mit Drogen, mit Zerbruch und Leid zu kämpfen haben? Philipp hat das authentisch vorgelebt. Er hat gesagt: ‚Ich stecke im Leid drin, aber ihr könnt mir ansehen: Ich habe noch Hoffnung.‘” „Eine komplette Predigt“ Jetzt erfüllt ausgerechnet der Song "Real Life", den die O’Bros über Philipps Situation geschrieben haben, seinen Wunsch nach Reichweite. Alex nennt den Song eine „komplette Predigt”. Jeden Tag erreichen ihn und seinen Bruder bewegende Zeugnisse von Menschen, die den Song "Real Life" gehört haben und von ihm tief berührt wurden. Manche lassen sich taufen. Das zeigt die „unfassbar krasse Linie Gottes” in der Geschichte. Doch es ist auch absurd: Während Alex um seinen Freund trauert, feiert er kurz nach seinem Tod den größten Erfolg seines Lebens. „Ich habe mich manchmal selbst gefragt, müsste ich nicht eigentlich trauriger sein?“ Andererseits würde Philipp das nicht wollen, da ist er sich sicher. Philipp hätte ihm krass vor Augen geführt, „du kannst durch jedes Leid durchgehen und dabei einen Frieden haben, der nicht von dieser Welt ist.“ Ab und zu gäbe es trotzdem Momente der Trauer. „Es ist ein krasser Gedanke für mich, diesen Menschen nie wiederzusehen. Ich vermisse ihn. Ich hätte Bock, ihn wieder zu treffen, mit ihm Sprachnachrichten zu schicken und mit ihm zu reden.“ Neben Alex liegt eine Taschenbuch-Bibel. Sie ist eine Inspiration von Philipp, der immer eine kleine Bibel in der Hosentasche hatte: „Er hat die Bibel aufgeschlagen und Bibelverse vorgelesen, die oft mit einer unfassbaren Präzision darauf gepasst haben, was wir gerade erlebten.“ In der Bibel steckt ein Selfie mit Philipp. Alex schaut es sich für eine kurze Zeit an: „Dass ich ihn hier einfach nicht mehr sehen kann, hat schon eine Grausamkeit.“ Wenn die Worte fehlen Dann verändert sich etwas in Alex. Er erinnert sich an sein vorletztes Treffen mit Philipp. An dem Abend hatten sie noch miteinander visioniert und Witze gemacht. Am nächsten Tag hat Philipp bis 14 Uhr geschlafen, da er vor lauter Schmerzen die ganze Nacht wach gelegen hatte. Alex wollte sich verabschieden, als er die Tür öffnet und bei Philipp im Zimmer steht, stockt er: „Philipp war so schwach und fertig. Ich wusste, dass er immer alles gab, um eine positive Ausstrahlung zu haben, aber in diesem Moment konnte er es einfach nicht.“ Es war die erste Begegnung mit Philipp, in der das Leid überwog. „Ich wusste gar nicht, worüber ich reden sollte. Ich konnte mich Philipp nicht nähern. Ich bin sehr geruchssensibel. Ich kam rein und musste mich fast übergeben. In dem Moment wurde mir klar, dass es wirklich nicht gut aussieht. Ich war überfordert und konnte nicht anders, als Ekel vor der Krankheit zu empfinden. Mein Herz hat wehgetan, weil ich Mitleid mit ihm hatte. Das war einfach seine Realität und jede Nacht so. Ich habe das nur fünf Minuten gesehen und war durch. Und trotzdem kenne ich keinen Menschen, der so eine Freude und so viel Frieden ausgestrahlt hat – selbst in all dem.“ Seine Stimme zittert, dann bricht sie ab. Stille. Alex schaut in Richtung Museumsinsel. Diesen Ort verbindet er mit Philipp. Hier waren sie bei seinem letzten Besuch in Berlin. Alex’ Augen werden rot. Er versucht, nicht zu weinen. Seine Finger spielen an seiner Wasserflasche. „Ich würde das Gefühl gerne in Worte fassen können. Es ist nicht nur Trauer. Vielleicht kenne ich das Gefühl nicht genug, um es beschreiben zu können.“ Ein übernatürlicher Frieden Philipps Tod ist der erste, den Alex hautnah miterlebt hat. Er war in dem Moment dabei, als Philipp gestorben ist. Philipps Freundeskreis hatte sich versammelt: „Jeder wusste, dass er bald sterben würde. Er hatte zu viel Blut verloren. Wir standen um sein Bett herum, haben geweint, gebetet und gesungen. In dem Moment, in dem Philipp gestorben ist und ich ihm in die Augen geschaut habe, war da einfach keine Angst. Es war unfassbar, was in diesem Raum für ein absoluter Frieden war. Seit Philipps Tod habe ich keine Angst mehr vor dem Sterben. Das fühlt sich unsensibel an, das so zu sagen, aber Philipps Tod war in seiner Gesamtheit schön und das ist irgendwie komisch. Das checke ich nicht. Gott hat das so unfassbar geführt und es war jedem, der sich im Raum befand klar, dass Gott das alles gerade in der Hand hat.“ Der Gedanke hat es in den Song "Real Life" geschafft: „Egal, was auf mich zukommt, weder hoch, weder tief, nein, ich hab’ keine Angst. Kann mir sicher sein, dass du kommst. Und egal was passiert, ich bin in deiner Hand.“ Auf seinem Nachhauseweg schaut Alex bei seinem Freund Manuel vorbei. Er lebt bei ihm in der Nähe auf einer Bank. Alex begrüßt ihn mit der Faust. Dann geht er zur Bäckerei und holt einen großen Kaffee mit Kakao und einen Espresso – so wie Manuel es gern hat. Eigentlich sollte Alex schon im Zug für sein nächstes Projekt sitzen, aber Manuel hat jetzt Priorität. Denn Zeit ist ein kostbares Gut; umso mehr, weil das Leben auf der Erde begrenzt ist.

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